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Plötzlich politisch

Die USA boykottieren die Olympischen Spiele in Beijing - das ist Heuchelei

Auch in Zeiten, als Männer noch vernünftige Sportbekleidung trugen, gab es schon Boykotte olympischer Spiele. So hatten die Gewichtheber Leonid Taranenko (Mitte), Valentin Khristov (links) und Gyorgy Szalai (rechts) 1980 in Moskau deutlich weniger Konkurrenz als sonst: Viele Sportler*innen der Westmächte blieben den Spielen aufgrund des sowjetischen Einmarschs in Afghanistan fern. Foto: Dmitryi Donskoy/Wikimedia, CC BY-SA 3.0 (zugeschnitten)

Es hatte sich angekündigt: Am 6. Dezember 2021 verkündete die US-Regierung einen »diplomatischen Boykott« der Olympischen Winterspiele in Beijing im Februar 2022. Schön und gut. Nur: Was ist ein »diplomatischer Boykott«? Und welche Bedeutung hat er? Um Letzteres zuerst zu beantworten: eigentlich gar keine. Der diplomatische Boykott eines Sportereignisses bedeutet, dort keine offiziellen politischen Repräsentant*innen hinzuschicken. Auf eine Fußball-WM übertragen fehlt damit die Politprominenz auf der Tribüne. Es würden nach Siegen weniger Hände geschüttelt, wir würden uns jede Menge peinlicher Fotos ersparen, und Funktionär*innen würden nicht auf öffentliche Kosten quer durch die Welt fliegen – nicht nur in Zeiten einer Pandemie eine gute Idee. Kurz, es gibt es bei einem diplomatischen Boykott eigentlich nur Gewinner*innen.

Was bleibt, ist die symbolische Bedeutung. Entsprechend reagierte die chinesische Regierung. Ein Sprecher kündigte »entschiedene Gegenmaßnahmen« an, ohne ins Detail zu gehen. Alliierte der USA werden sich dem diplomatischen Boykott anschließen. Neuseeland hat dies bereits getan, Großbritannien und Australien werden bald folgen. In Europa ist man noch zurückhaltend. Der Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte, man werde sich »sehr sorgfältig mit uns, unter uns und mit den Partnern in Europa und der Welt« beraten. Ausweichend wie immer gab sich das Internationale Olympische Komitee. Man sei schließlich »keine Weltregierung«, wie Präsident Thomas Bach nicht müde wird zu betonen.

Ob die Boykotterklärung die Spannungen zwischen den USA und China weiter verschärfen wird, wird die Zukunft weisen. Hier wird viel politisches Kleingeld gewaschen, wie bei den Diskussionen um Journalist*innenvisa und Industriespionage. Ein bisschen erinnert es an die Zeit des Kalten Krieges. Auch damals wurde die olympische Bewegung zum Spielball politischer Manöver. Die Boykotte waren allerdings nicht nur diplomatisch. 1980 blieben die Sportler*innen der meisten Westmächte aufgrund des sowjetischen Einmarschs in Afghanistan den Olympischen Sommerspielen in Moskau fern. 1984 ließen die Regierungen 14 realsozialistischer Länder ihre Sportler*innen nicht an den Olympischen Sommerspielen in Los Angeles teilnehmen, weil sie deren Sicherheit nicht gewährleistet sahen.

Was zählt, geschieht an der Basis.

Die Heuchelei, die Boykotten von Sportgroßereignissen innewohnt, hat viele Dimensionen. Nicht zuletzt, wenn es sich um diplomatische handelt. Diplomatische Boykotte kosten nichts. Ein tatsächlicher Boykott hat zumindest ökonomische Konsequenzen. Fernsehsendern brechen die Quoten ein, Sponsoren erhalten keine Aufmerksamkeit, die Sportindustrie erobert keine neuen Märkte. Doch das ist nur das eine. Wie steht es mit der Sorge um die Menschenrechte, die die USA als Hauptgrund für den Boykott anführen? Wo war sie während der Olympischen Sommerspiele in Beijing 2008? Menschenrechtsorganisationen protestierten schon damals gegen das Event, doch den westlichen Regierungen war das egal. Die geopolitische Lage verlangte zu jener Zeit keine Reaktionen. Und wie sieht es mit den Menschenrechten aus in Zusammenhang mit dem US-Fiasko in Afghanistan, den Kriegen im Mittleren Osten und dem strukturellen Rassismus in den USA? Genau wie deutsche Unternehmen profitieren auch US-Konzerne von chinesischen Arbeitslagern, wenn man den Berichten zahlreicher NGOs Glauben schenken darf.

Anlässlich der Olympischen Sommerspiele in Mexiko-Stadt 1968 kam es zu einer zivilgesellschaftlich initiierten Boykottbewegung. Man beanstandete den Rassismus in der Welt des Sports und die Unterdrückung politischer Protestbewegungen in Mexiko, wo zehn Tage vor der Eröffnung der Spiele bei einer Demonstration 300 Menschen von Sicherheitskräften getötet wurden. Auch das war damals der offiziellen Politik egal. Also machten Athlet*innen die Spiele selbst zur Bühne politischer Proteste. Dieser Tatsache haben wir eines der ikonischsten Bilder der Sportgeschichte zu verdanken, dem Black-Power-Gruß der US-Sprinter Tommie Smith und John Carlos während der Siegerehrung für den 200-Meter-Lauf. Was zählt, geschieht an der Basis. Regierungen können herumalbern, wie sie wollen.

Gabriel Kuhn

lebt als Journalist und Autor in Schweden.