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|ak 704 | Wirtschaft & Soziales

Der blinde Fleck der Austeritätskritik

Kanzler Scholz schlägt sich auf die Seite des Finanzministers, derweil fordern immer mehr Institute eine Lockerung der Schuldenbremse

Von Fabian Westhoven

Bei Verteidigungsminister Boris Pistorius sorgt die Schuldenbremse für sprachliche Verlegenheit und Verärgerung: In den USA wurde er kürzlich gefragt, wie er mit der »debt brake« und ohne neue Steuern, das viele Geld für neue Waffen aufbringen wolle. Seine Antwort: »This is like, I don’t know how to say it – eierlegende Wollmilchsau.« Wenig später platzte ihm beim Kabinettsfrühstück der Kragen: »Ich muss das hier nicht machen«, soll er gesagt haben, als klar wurde, dass sein Vorschlag, die Kosten für Verteidigung und Zivilschutz von der Schuldenbremse auszunehmen, auf wenig Gegenliebe stieß. Als Rücktrittsdrohung wollte er das jedoch nicht verstanden wissen.

Wie auch immer: Olaf Scholz hat sich Mitte Mai eindeutig auf die Seite des obersten Sparkommissars der Republik, Christian Lindner, geschlagen. »Der Finanzminister hat den Ressorts Limits genannt – das war mit mir abgesprochen«, sagte der Bundeskanzler.

Dass der Streit in der Ampelkoalition damit beigelegt ist, darf bezweifelt werden. Er war dadurch ausgelöst worden, dass vor allem SPD-Minister*innen für ihre Haushalte 2025 mehr Geld beim Finanzminister angemeldet hatten, als dieser zu geben bereit war. Denn angesichts des historischen Haushaltsurteils des Bundesverfassungsgerichts von Mitte November, dass die Umwidmung von Corona-Hilfen in den Klima- und Transformationsfonds untersagte, muss gespart und die Schuldengrenze eingehalten werden. Zumal die neueste Steuerschätzung ergab, dass im kommenden Jahr mit 22 Milliarden Euro weniger Einnahmen zu rechnen sei.

Haushaltspolitische Sparmaßnahmen und Austerität werden von der Linken seit jeher kritisiert. Mit guten Gründen; Zukunftsinvestitionen würden unterbleiben, die Infrastruktur kaputt gespart und das Wirtschaftswachstum durch fehlende Nachfrage abgewürgt. Interessant ist, dass die Kritik an Schuldenbremse und Sparhaushalten inzwischen von allen Seiten kommt – sogar von Instituten und Wirtschaftswissenschaftler*innen, die bis dato eher auf (neo)liberalem Kurs waren. Die notorisch wirtschaftsliberale Bertelsmann-Stiftung hat kürzlich eine Studie veröffentlicht, die Ausnahmen von der Schuldenbremse nicht nur für Verteidigung, sondern sogar für Bildung und Soziales fordert. Ihr Ökonom Marcus Wortmann sagte: »Ein immer weiter sinkender Schuldenstand nützt uns gar nichts, wenn der Preis ist, dass wir den klimagerechten Umbau des Landes nicht hinbekommen und zudem den Anschluss an Länder wie die USA und China verlieren, die moderne Industrien mit hohen Summen fördern«.

Der Ruf nach mehr Investitionen, stellt das Wachstumsparadigma nicht infrage.

Ein weiteres, bemerkenswertes Beispiel: In seltener Eintracht haben das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft und das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung ein Papier vorgelegt. Die Kernaussage: In den nächsten zehn Jahren werden zusätzliche Investitionen in Höhe von 600 Milliarden Euro benötigt, um unter anderem die kommunale Infrastruktur zu modernisieren, den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs voranzutreiben oder Mittel für Klimaschutz und -anpassung bereitzustellen. Dafür sei es unumgänglich, neue Kredite aufzunehmen, also Schulden zu machen. Dazu sei eine Reform der Schuldenbremse notwendig. Das fordern auch die IG Metall und die Industrieländerorganisation OECD.

Den Forderungen kann man sich im Kern anschließen und die Kritik an der austeritätsfixierten FDP, die der Ampel ihren Stempel aufdrückt, ist berechtigt. Doch sollte man zweierlei bedenken: Pistorius’ Kurs – mehr Schulden für mehr Rüstung – ist keine unterstützenswerte Position. Und auch der von vielen geteilte neue Konsens, dass mehr Investitionen nötig seien, muss hinterfragt werden.

Zum einen, weil dahinter das Motiv steht, den angeschlagenen Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken. Und zum anderen, weil Investieren im Kapitalismus nichts anderes bedeutet, als Geld anzulegen, damit es sich vermehren kann. Damit bleibt man indes in der Wachstumsspirale gefangen. Wachstum, ausgedrückt in einem steigenden Bruttoinlandsprodukt, geht immer mit einem steigenden Rohstoffverbrauch und Treibhausgasemissionen einher. Auch dann, wenn in erneuerbare Energien investiert wird, weil diese das Energieangebot erhöhen, statt Kohle und Öl zu ersetzen. Das spricht nicht gegen Investitionen in Klimaschutz und öffentlichen Verkehr, sondern für den begleitenden Rückbau der umweltschädlichsten Industrien und Sektoren. Das ist die Leerstelle des Konsenses in der Kritik an Schuldenbremse und Sparkurs.

Fabian Westhoven

Fabian Westhoven wohnt in Hamburg und schreibt nebenberuflich über Ökonomie und Ökologie.