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Auf europäischen Wegen

In Nordirland wird der alte Konflikt von neuem Rassismus überschattet, Triebkraft sind vor allem protestantische Gruppen

Von Dietrich Schulze-Marmeling

Bild eines vermummten Kämpfers an einer Wand.
Bewaffnet und bereit: Wandbild protestantischer Paramiliärs in Belfast. Foto: Dietrich Schulze-Marmeling.

Im Juli und August wurde Nordirland erneut von schweren rassistischen Ausschreitungen heimgesucht. Betroffen waren vor allem Migrant*innen in mehrheitlich protestantischen Städten im Osten der britischen Provinz. In diesen Städten sind noch loyalistische Paramilitärs präsent, jene protestantischen Gruppen, die während des Bürgerkriegs in Nordirland gegen Katholik*innen und die linksnationalistische Irish Republican Army (IRA) kämpften. In Ballymena, Bangor, Belfast, Carrickfergus, Newtownabbey und Portadown sind noch die paramilitärischen Gruppen Ulster Defence Association (UDA) und die Ulster Volunteer Force (UVF) wahrnehmbar. Die Hälfte der Angriffe gegen Migrant*innen ereigneten sich aber in der nordirischen Hauptstadt Belfast, hier vor allem im protestantischen Osten, einer Hochburg der loyalistischen Paramilitärs.

Für internationale Schlagzeilen sorgte ein Mob Hunderter junger Männer, darunter Mitglieder der UDA, der in Ballymena Häuser angriff, in denen Migrant*innen aus Rumänien, Bulgarien und den Philippinen lebten. Der Mob trat Türen ein, zerschlug Fenster und versuchte, die Häuser in Brand zu setzen. Eine elfköpfige Familie – darunter drei Kinder – verschanzte sich auf dem Dachboden ihres Hauses, während die Angreifer in das Haus eindrangen und das Erdgeschoss verwüsteten.

Pogromartige Vertreibungen gehören zur DNA des reaktionären pro-britischen Loyalismus.

Ryan Anderson, stellvertretender Chef der nordirischen Polizei, bezeichnete die Angriffe als »pure rassistische Gewalt«. Für Liam Kelly, Vorsitzender der nordirischen Polizeigewerkschaft, verhinderten die Beamt*innen »ein Pogrom mit unvorstellbaren Folgen.«

Neue Feindbilder

Rassistisch motivierte Straftaten haben in Nordirland ein Rekordniveau erreicht. Die nordirische Polizei registrierte in den zwölf Monaten bis Ende Juni 2025 1.329 Straftaten mit rassistischem Hintergrund – in einem Land mit weniger als zwei Millionen Einwohner*innen. Dies waren 434 mehr als in den zwölf Monaten davor und die höchste Zahl seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2004. Hingegen gab es bei den sektiererisch motivierten Straftaten, jenen Straftaten, die den Konflikt zwischen Katholik*innen und Protestant*innen betreffen, kaum Veränderungen. Hier betrug die Zahl der Straftaten 611, also weniger als die Hälfte der rassistischen. Nordirlands Loyalist*innen, die wollen, dass Nordirland sich nicht vom Vereinigten Königreich abspaltet, haben einen neuen Feind entdeckt. Und der neue Rassismus in der Provinz folgt der Entwicklung in England.

Was wir derzeit an einigen Orten in England beobachten, wo ganze Straßenzüge in die Farben des Union Jacks gehüllt und Bürgersteige wie Zebrastreifen in britischen Farben angemalt werden, wirkt wie eine Kopie von Verhältnissen, wie sie in den urbanen protestantischen Gebieten von Nordirland schon lange existieren. Wobei sich hier die Markierung des Territoriums jahrzehntelang gegen katholische/nationalistische »Eindringlinge« wandte.

Pogromartige Vertreibungen gehören zur DNA des reaktionären pro-britischen Loyalismus. Schon die Gründung des nordirischen Staates unter Londoner Herrschaft wurde von ihnen begleitet, war er doch als britisch-protestantischer Gegenpol zur gerade gegründeten irischen Republik gedacht. Damals wurden allein in Belfast 11.000 katholische Arbeiter*innen von ihren Arbeitsplätzen vertrieben. 23.000 Katholik*innen, die in mehrheitlich protestantischen Gebieten oder an deren Rand lebten, mussten ihre Häuser verlassen.

Bei Ausbruch des nordirischen Bürgerkriegs 1969 wurden in Belfast 1.820 Familien aus ihren Häusern vertrieben, 1.505 waren katholischen Glaubens. Zwischen 1969 und 1972 sahen sich zwischen 8.000 und 15.000 Familien genötigt, Haus und Viertel zu verlassen. Belfast wurde zum Schauplatz der größten Fluchtbewegung in Westeuropa seit dem Zweiten Weltkrieg. 1974 torpedierte eine militante loyalistische Massenbewegung das Projekt der britischen Regierung, die Verhältnisse in der Provinz durch die Etablierung einer Regierung aus pro-britischen Unionist*innen und gemäßigten irischen Nationalist*innen sowie die Einrichtung eines gesamtirischen Rats zu befrieden. Die UDA, die damals noch 30.000 bis 40.000 Mitglieder zählte, drohte mit der kompletten Vertreibung der Katholik*innen aus Nordirland.

Mit den Jahren wurde die konfessionelle Segregation insbesondere in den unteren Schichten der Gesellschaft total. Segregation bedeutete auch: Weitgehende Beschränkung des eigenen Lebens auf das eigene Viertel, in dem Menschen mit einem anderen kulturellen, religiösen oder ethnischen Hintergrund nichts zu suchen hatten. Der Journalist Malachi O’Doherty beschrieb das so: »An einigen Orten, die, um es milde auszudrücken, einen stolzen Sinn für sozialen und kulturellen Zusammenhalt haben, herrscht grundlegender Rassismus.« Gemeinschaften, die es gewohnt waren, in derselben Siedlung zu leben, gingen auf die Barrikaden, »wenn Außenstehende Häuser beziehen, die sonst vielleicht an Freunde oder Verwandte gegangen wären. Ob es sich nun um Katholiken oder Roma handelt ­– es wird als eine Verwässerung dieser Gemeinschaft betrachtet.« In einem Staat, der einst als »protestant state for protestant people« ins Leben gerufen wurde, sehen Nordirlands Loyalist*innen ihre Identität nicht nur durch eine sich entwickelnde katholische/nationalistische Mehrheit bedroht, die nicht mehr zu verhindern ist, sondern auch durch Migration.

»White Irish Only!«

Bis zum Karfreitags-Abkommen von 1998, das die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen irischen Republikaner*innen und britischen Loyalist*innen sowie den bewaffneten Kräften des britischen Staats beendete, war Zuwanderung in Nordirland ein Fremdwort. Dies hat sich seither geändert, aber in einem zum Rest des Vereinigten Königreichs äußerst moderaten Ausmaß. Bei der Volkszählung von 2001 gehörten nur 14.300 Menschen oder 0,8% der Gesamtbevölkerung einer ethnischen Minderheit an. Im Jahr 2021 waren es 65.600 Menschen oder 3,4%. Im Vergleich zu England (18%) oder Schottland (11%) ist Nordirland nach wie vor sehr weiß und wenig divers.

Rassismus war in Nordirland lange Zeit kein Thema. Als die britische Regierung in den 1960er und 1970er Jahren Gesetze zur Bekämpfung von Rassismus verabschiedete, wurde die Provinz von diesen ausgenommen, da dort Rassismus nicht das Problem sei.

Was aber nicht bedeutete, dass Rassismus nicht existierte. Asiatische Migrant*innen waren auch schon damals nicht wohl gelitten, doch fiel dies in der allgemeinen Wahrnehmung unter den Tisch. Migration war kaum sichtbar, hatte keine nennenswerten Auswirkungen auf die ansonsten von den Loyalist*innen argwöhnisch beäugte demographische Entwicklung in der Provinz.

Trotzdem: Bis zum Karfreitags-Abkommen dominierte der Widerspruch zwischen Katholik*innen/Nationalist*innen und Protestant*innen/Unionist*innen. Allerdings: Das anti-katholische Sektierertum richtete sich nicht nur gegen eine »fremde Religion« und »fremde Kultur«, sondern auch »fremde Menschen«, genauer: gegen Ir*innen, und war somit häufig auch rassistisch.

So war Ballymena auch schon vor den jüngsten rassistischen Ausschreitungen kein unbescholtener Ort. In den 1990er und Mitte der 2000er Jahre kam die Stadt zu trauriger Berühmtheit, als loyalistische Mobs katholische Schulen und Kirchen angriffen.

Zwar ist der Rassismus noch immer eine ganz überwiegend protestantische/loyalistische Angelegenheit, aber völlig immun sind die katholischen und politisch von der republikanischen Sinn Féin, die größte linksnationalistische Partei auf der Insel, vertretenen Gebiete nicht. Auch in Poleglass und Twinbrook, zwei republikanischen Vierteln in Belfast, tauchten rassistische Graffiti auf: »White Irish Only!«

Auch ein zunächst einmal inklusiv daherkommender Nationalismus, dessen Wurzeln die Erfahrung von kolonialistischer Unterdrückung und Diskriminierung sind, hat seine Kipppunkte. In der Republik Irland hat Sinn Féins klare Haltung in Sachen Rassismus und Migration die Partei an der Wahlurne Prozente gekostet – ihre Wähler*innenschaft ist heterogen und mitnichten gesellschaftspolitisch ausschließlich progressiv. Gleichzeitig hat Sinn Féins Weigerung, als nationalistische Partei auf den Anti-Migrant*innen-Zug zu springen, dafür gesorgt, dass im Dubliner Parlament keine starke rassistische Anti-Einwanderungspartei sitzt.

Dietrich Schulze-Marmeling

ist Autor von »Antisemitismus reloaded – Die Linke, der Staat und der 7. Oktober« (edition einwurf, 2024).