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Norderweiterung ohne Nej

Schweden und Finnland drängen in die Nato – obwohl die Linke das stets abgelehnt hat, fallen ihr Protest und Widerspruch bescheiden aus

Von Gabriel Kuhn

Ein Mann steht vor einer finnischen Flagge, ein anderer Mann vor einer Nato-Fahne und eine Frau vor einer schwedischen Fahne
Pekka Haavisto, Finnlands Außenminister, mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und Ann Linde, Schwedens Außenministerin (von links nach rechts, Bild vom 22. April). Foto: Nato / Flickr , CC BY-NC-ND 2.0

Es ging schnell. Als die schwedische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson am 8. März gefragt wurde, wie es angesichts der finnischen Nato-Avancen um ein schwedisches Beitrittsgesuch stehe, erklärte sie die Frage für »nicht aktuell«. 24 Stunden später war alles anders. Plötzlich meinte Andersson, dass nichts in Stein gemeißelt sei und man natürlich auch seine Verteidigungspolitik immer wieder überdenken müsse. Rasch zeichnete sich ab, dass es mit einem Beitrittsantrag nicht lange dauern würde. Es dauerte genau 71 Tage. Am vergangenen Mittwoch, den 18. Mai, reichten Finnland und Schweden gemeinsam ihre Anträge ein.

Was war geschehen? Dass Finnland in der Diskussion voranschritt, ist nicht verwunderlich. Die finnische Neutralität war nie das Resultat demokratischer Willensbildung. Sie wurde Finnland nach Ende des Zweiten Weltkriegs aufgezwungen, um die Beziehungen zur Sowjetunion zu stabilisieren. Der Begriff der »Finnlandisierung«, der die Unterwerfung eines Landes unter von mächtigen Nachbarstaaten auferlegte Bedingungen meint, schaffte es sogar ins diplomatische Vokabular. Die finnisch-russische Grenze erstreckt sich über 1.340 Kilometer. Bis zur Unabhängigkeit 1919 war Finnland mehr als 200 Jahre lang unter russischer Herrschaft. Auch danach kam es immer wieder zu Grenzstreitigkeiten, vor allem, was die Aufteilung Kareliens betrifft. Der Bürgerkrieg zwischen »Roten« und »Weißen«, der 1918 auf Finnland überschwappte, hinterließ dort tiefe Wunden. Ebenso der sowjetisch-finnische »Winterkrieg« 1939/40. Vor diesem Hintergrund erfuhr die »russische Bedrohung« mit der Invasion der Ukraine eine neue Aktualität. Erstmals wünscht sich eine große Mehrheit der finnischen Bevölkerung die Mitgliedschaft in der Nato. Die Politik, mit der sozialdemokratischen Ministerpräsidentin Sanna Marin an der Spitze, zog nach.

Wahljahr in Schweden

In Schweden verhält es sich ein bisschen anders. Die Neutralität ist seit Anfang des 19. Jahrhunderts ein Prinzip schwedischer Außenpolitik. Sie hat sich historisch bewährt. Selbst während der beiden Weltkriege kam es in Schweden, anders als in den nördlichen Nachbarstaaten, zu keinen Kampfhandlungen. Man profitierte vielmehr ökonomisch, nicht zuletzt durch Eisenerzexporte an die deutsche Kriegsindustrie. Schweden entwickelte sich auch auf dieser Grundlage von einem rückständigen, agrikulturell geprägten Land zu einer der führenden Industrienationen Europas und dem Musterbeispiel für einen sozialen Wohlfahrtsstaat.

Dieser wird seit den 1990er Jahren kontinuierlich abgebaut: Sozialkürzungen, Privatisierungen und die Prekarisierung des Arbeitsmarktes haben zu einer Zunahme der Ungleichheit und starken sozialen Spannungen geführt. Das spiegelt sich auch in der Parteipolitik wider, in der zwischen dem rotgrünen Block und der bürgerlichen Allianz mit harten Bandagen gekämpft wird.

Was hat das mit dem Nato-Beitrittsgesuch zu tun? In Schweden ist Wahljahr. Es gehört zur Tragik der Anträge auf Nato-Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens, dass diese Entscheidung weltpolitischer Bedeutung zumindest zum Teil Folge kurzfristiger parteipolitischer Interessen ist. Nach Magdalena Anderssons Aussage über die Irrelevanz der Nato-Diskussion ließ die Kritik nicht lange auf sich warten. Oppositionsführer Ulf Kristersson meinte, dass Andersson Russland erlaube, die Verteidigungspolitik Schwedens zu diktieren. Auch in Schweden legten Meinungsumfragen nahe, dass die Tendenz in der Bevölkerung zu einer mehrheitlichen Befürwortung eines Nato-Beitritts ging. Die Sozialdemokratie sah hinsichtlich der Wahlen im Herbst ihre Felle davonschwimmen und machte eine radikale Kehrtwende.

Gerechtfertigt wurde diese in erster Linie mit dem Verweis auf das finnische »Brudervolk«. Man dürfe Finnland in schwierigen Zeiten wie diesen mit seiner Verteidigungspolitik nicht alleine lassen. Dass Schweden historisch weit länger über Finnland geherrscht hat als Russland, lässt man dabei gerne unter den Tisch fallen. Lieber spricht man von einer »langen gemeinsamen Geschichte«. Diese hat unter anderem dazu geführt, dass es mit den Finnlandschwed*innen eine bedeutende schwedischsprachige Minderheit in Finnland gibt. (Die zu Finnland gehörende Insel Åland ist ausschließlich schwedischsprachig.) Auch in Schweden werden die Schwedenfinn*innen seit dem Jahr 2000 als offizielle nationale Minderheit anerkannt. Die meisten von ihnen kamen im Laufe des 20. Jahrhunderts als Arbeitsmigrant*innen ins Land. Immer schon auf schwedischem Staatsgebiet wohnten die Tornedalfinn*innen im hohen Norden des Landes, eine weitere offiziell anerkannte Minderheit.

Die militärische Zusammenarbeit zwischen Schweden und Finnland, auf die im Kontext der Nato-Beitrittsanträge so fleißig verwiesen wird, hat jedoch eine kurze Geschichte. Sie begann erst in den 1990er Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts reichte alleine die Erwägung eines schwedisch-finnischen Militärbündnisses, um von offiziellen politischen Ämtern geschasst zu werden. 1923 wurde der damalige schwedische Außenminister Carl Hederstierna nach einer entsprechenden Äußerung zum Rücktritt gezwungen.

Es schadet der öffentlichen Wahrnehmung der Nato in Finnland und Schweden sicherlich nicht, dass mit Jens Stoltenberg ein früherer sozialdemokratischer Ministerpräsident Norwegens der gegenwärtige Generalsekretär des Bündnisses ist.

Zur Rechtfertigung der Kehrtwende in Sachen Nato bedient man sich auch in Schweden des Verweises auf die »russische Bedrohung«. Zwar fehlt eine gemeinsame Landesgrenze, doch Berichte über russische U-Boote, die in schwedischen Gewässern gesichtet wurden, oder russische Kampfjets, die in den schwedischen Luftraum eindrangen, füllen die Zeitungsspalten seit vielen Jahren. Besonderes Augenmerk gilt der strategisch wichtigen Ostseeinsel Gotland. Auf diese, so meint man in Schweden, hätte es Russland besonders abgesehen. Gotland liegt nahe der russischen Exklave Kaliningrad und des Baltikums. Auch die baltischen Staaten spielen für die Rechtfertigung der Nato-Ambitionen in Finnland und Schweden eine Rolle. Die Handelsbeziehungen sind eng, und man fühlt sich für die Kleinstaaten, die sich vom sowjetischen Erbe und der russischen Einflusssphäre emanzipiert haben, mitverantwortlich.

Bearbeitung in Rekordzeit

Rational ist daran wenig. Selbst vereinzelte Sozialdemokrat*innen weisen darauf hin, dass ein Nato-Beitritt die Sicherheitslage Finnlands und Schwedens nicht unbedingt verbessern, sondern eher verschlechtern wird. Eine ehemalige Pufferzone wird zur Zielscheibe möglicher militärischer Aggression. Ohne jede Unterstützung wären Finnland und Schweden in so einem Fall auch ohne Nato-Zugehörigkeit kaum. Seit vielen Jahren werden Militärübungen gemeinsam mit Truppen von Nato-Mitgliedsstaaten durchgeführt. Doch für Reflexionen dieser Art ist im Moment wenig Zeit. Stattdessen titelte die liberale Tageszeitung Dagens Nyheter am Tag des schwedischen Beitrittsantrags: »Heute ist es leicht, auf Schweden stolz zu sein.«

Das ist auch ein Zeichen der Zeit: Die Krise des globalen Kapitalismus hat dem Nationalstaat neue Bedeutung verliehen. Klassische Formen des Imperialismus, mit militärischen Auseinandersetzungen um territoriale Kontrolle, treten wieder vermehrt an die Stelle rein ökonomischer Abhängigkeiten. Diese Realitäten holen auch den Norden Europas ein.

Es schadet der öffentlichen Wahrnehmung der Nato in Finnland und Schweden sicherlich nicht, dass mit Jens Stoltenberg ein früherer sozialdemokratischer Ministerpräsident Norwegens der gegenwärtige Generalsekretär des Bündnisses ist. Stoltenberg warb seit Beginn des Krieges in der Ukraine aktiv um die Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands. Im Falle von Beitrittsanträgen versprach er deren Bearbeitung in Rekordzeit.

Der Widerstand gegen diese fällt in beiden Ländern bescheiden aus. Es ist schwierig, in einer Stimmung zu intervenieren, in der jeder Zweifel an der Nato in Windeseile als Verharmlosung der russischen Aggression gedeutet wird. Auch die Linksparteien beider Länder ließen von ihrer Nato-Gegnerschaft ab. Als die finnische Linkspartei vor zweieinhalb Jahren in die Regierungskoalition eintrat, stellte sie die militärische Blockfreiheit noch als Bedingung. Nun legte sie dem Nato-Beitrittsantrag keinen Stein in den Weg. Auch in Schweden gibt es von der Linkspartei keine prinzipielle Opposition. Man forderte einzig einen Volksentscheid.

Es wird in beiden Ländern gegen die Nato-Beitrittsgesuche demonstriert, viele Leute kommen jedoch nicht. Knapp 300 waren es am 15. Mai vor dem finnischen Parlament, als die Regierung den Antrag offiziell absegnete. Vehementer Widerspruch kommt nur aus dem orthodoxeren marxistisch-leninistischen Lager. So wettert die Kommunistische Partei Schwedens in ihrer Zeitung Proletären gegen »sozialdemokratische Landesverräter«. Für die öffentliche Debatte ist das bedeutungslos.

Wer sich nun in letzter Verzweiflung an den Strohhalm eines möglichen türkischen Vetos gegen die Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens in der Nato klammern will, wird enttäuscht werden. Auf einen Riss innerhalb des Bündnisses wird es Erdogan nicht ankommen lassen. Alle anderen Mitgliedsländer heißen Finnland und Schweden enthusiastisch willkommen. Und Erdogan geht ums politische Kalkül: Finnland und Schweden sollen ihre »kurdenfreundliche« Politik ändern, und andere Nato-Mitgliedsländer bestehende Restriktionen bei Waffenlieferungen an die Türkei aufheben. Es handelt sich um einen Hickhack, der sich wohl bald auflösen wird. Für Finnland und Schweden ist die Situation nichtsdestoweniger ein Test. Man wird sehen, zu welchen Kompromissen die Länder bereit sind, um in den erlauchten Kreis der Nato-Mitgliedsländer aufgenommen zu werden.

Gabriel Kuhn

lebt als Journalist und Autor in Schweden.