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Trickreich zur Netto-Null

Städte, Kommunen und Ministerien wollen klimaneutral werden. Können sie ihre Versprechen halten?

Von Eva Rechsteiner

In den Städten ist hierfür nur wenig Platz. Das macht den Weg zur Klimaneutralität schwieriger. Foto: Unsplash/Rabih Shasha

Das Schlagwort »klimaneutral« hat noch immer nicht an Fahrtwind verloren. Ganz im Gegenteil, es werden immer mehr Produkte und Unternehmen als »klimaneutral« deklariert. Meist folgt der Bezeichnung keine weitere Erklärung, wie diese vermeintliche Klimaneutralität erreicht wurde. Im Mai 2021 hat die Wettbewerbszentrale darauf reagiert und in zwölf Fällen die Werbeaussagen von Unternehmen, die ihre Produkte als klimaneutral bezeichnen, als irreführend entlarvt. In vier Fällen hat die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e.V., so der offizielle Name, sogar Unterlassungsklagen eingereicht, unter anderem gegen Aldi Süd. Im vergangenen Dezember wurden die Forderungen des Vereins nach mehr Transparenz durch eine Gerichtsentscheidung bestätigt.

Trotzdem ist der Begriff »klimaneutral« oder englisch »net zero« (Netto-Null) noch immer kein geschützter oder standardisierter Begriff, sodass die Verwendung des Wortes viel Spielraum lässt. Unternehmen können die Klimaneutralität durch eigene Klimaschutzmaßnahmen vor Ort realisieren oder sie auf CO2-Kompensationsmaßnahmen setzen. Bei der CO2-Kompensation werden Emissionsminderungsgutschriften (meist als Zertifikate bezeichnet) aus Klimaschutzprojekten im Globalen Süden gekauft und mit den einheimischen Emissionen verrechnet. Die meisten Unternehmen machen eine Mischung aus beiden, wobei der Anteil der kompensierten Emissionen meist nicht genannt wird.

Zuletzt untersuchte das New Climate Institute 25 Weltkonzerne, die versprechen, ihre Treibhausgasemissionen spätestens bis 2050 auf null (»net zero«) zu reduzieren. Nahezu bei allen Konzernen fanden sich weder ausreichende Maßnahmen noch Garantien für das Einhalten der Versprechen. Während es für private Unternehmen bereits eine Reihe von Analysen zu deren Klimaneutralitätszielen gibt, liegen für den öffentlichen Sektor bisher noch keine Untersuchungen vor. Dabei gibt es auch in diesem Bereich viele Akteure, die Klimaneutralität versprechen.

Verabschiedeten Kommunen und Landesregierungen in den vergangenen Jahren Klimaschutzziele, orientierten sie sich häufig an den Zielen der Bundesregierung. Nun führte der politische Druck der Straße dazu, dass sie sich das Ziel der Klimaneutralität auf die Fahne schreiben. Gleichzeitig lässt sich eine »Klimaneutralität« bis 2030, so etwa die Zielsetzung von Erlangen und Münster, in der Regel aufgrund der kurzen zeitlichen Dimension nicht allein durch Treibhausgas-Minderung erreichen. Eine Klimaneutralität 2030 ist mit politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich kaum durchzusetzenden, harten Strukturumbrüchen verbunden. 

Ohne Konzept und Bilanzen

Herausfordernd ist die schnelle Umsetzung des Ziels der Klimaneutralität vor allem in großen Städten. In diesen wird dies besonders stark thematisiert, gleichzeitig haben aber Städte auf ihren Gebieten wenig Potenzial für erneuerbare Energien, stattdessen verfügen sie über eine groß ausgebaute fossile Infrastruktur (z.B. Erdgasnetze). Das führt dazu, dass der Spagat zwischen politischen Klimazielsetzungen und der tatsächlichen Umsetzung von erforderlichen Maßnahmen immer größer wird. Da die Städte innerhalb eines Jahrzehnts ihre Emissionen vor Ort nicht gänzlich reduzieren können, sich aber dem politischen Druck ausgesetzt fühlen, suchen sie nach anderen Maßnahmen, um die Emissionen auf dem Papier zu verrechnen und damit die »Klimaneutralität« bilanziell zu erreichen – etwa durch die erwähnten CO2-Kompensationen. 

Das Ziel der Klimaneutralität wird zudem häufig beschlossen, ohne genau zu wissen, was das Ziel beinhaltet, noch wie es erreicht werden soll. So erklärte beispielsweise Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, dass die bayerische Staatsregierung bis 2023 klimaneutral werden soll. Bis jetzt liegen dafür weder Konzepte noch eine CO2-Bilanz vor. Die CO2-Kompensation orientiert sich am Prinzip »Vermeiden – vor Reduzieren – vor Kompensieren«; das bedeutet, dass Kompensation nur als letzter Schritt für unvermeidbare Restemissionen angesetzt werden soll. Ohne vorhandene Konzepte zur Vermeidung und Reduktion läuft Söders Klimaneutralität jedoch auf 100 Prozent Kompensation hinaus. 

In den meisten Fällen ist die »Klimaneutralität« im öffentlichen Sektor lediglich ein rechnerisches Ergebnis, das durch CO2-Ausgleichszertifikate erreicht wird.

Etwas besser präsentiert sich die Landesregierung Baden-Württembergs. Auch hier wurden im letzten Jahr die Klimaschutzziele für die öffentliche Hand weit nach vorne datiert. Bis 2030 soll die Landesverwaltung klimaneutral organisiert werden. Dafür wurde bereits 2014 (damals noch mit dem Zieljahr 2040) ein Konzept einschließlich einer CO2-Bilanz mit einer Reihe von Vorschlägen zur CO2-Minderung erstellt. Ein Gesamtbericht zum Stand der Umsetzung wird alle drei Jahre dem Landtag vorgelegt. Allerdings: Die bisherige Emissionsbilanz sinkt nur durch einen Trick: Der Emissionsfaktor für Strom wurde durch die Umstellung auf Ökostrom auf nahezu null gesetzt. Die Emissionen aus den Sektoren Wärme und Mobilität bleiben in den Jahren 2010 bis 2018 unverändert hoch.

Angesichts der sich nicht verändernden Treibhausgasemissionen war es von der Landesregierung mutig, das Ziel weiter nach vorne zu ziehen. Denn um dieses zu erreichen, müssten unter anderem alle Universitäten und Ministerialgebäude in Baden-Württemberg in den kommenden acht Jahren energetisch saniert und auf eine klimafreundliche Energieversorgung umgestellt werden. Für diese Maßnahme ist weder genügend Personal noch ein entsprechendes Budget vorgesehen. Daher wird auch die Landesregierung Baden-Württemberg auf CO2-Zertifikate zurückgreifen; im Jahr 2030 rechnet die Landesverwaltung mit etwa zehn Millionen Euro jährlich für CO2-Kompensationsmaßnahmen. Dafür wurde bereits die Baden-Württemberg Stiftung um eine Klimaschutzstiftung erweitert, die sich explizit der CO2-Kompensation widmet und in Kommunen umfangreich Werbung dafür betreibt.

Klimaneutralität zum Schnäppchenpreis

Auch auf Bundesebene sparen Akteure nicht, sich mit dem Begriff klimaneutral zu schmücken. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) bezeichnet sich seit 2020 als klimaneutral – trotz intensiver Reisetätigkeiten. Emissionen aus dem Bereich Mobilität haben einen Anteil von fast 80 Prozent an den Gesamtemissionen, davon entfallen allein auf die Flugreisen fast 90 Prozent. Diese »unvermeidlichen« Treibhausgas-Emissionen werden mit Projekten in Nepal und Ruanda kompensiert, für etwa neun Euro pro Tonne CO2. Verglichen mit dem Gesamtetat des BMZ von zehn Milliarden Euro in 2020 sind die etwa 20.000 Euro jährlich für CO2-Kompensationsprojekte ein wahres Schnäppchen. Währenddessen erlaubt das BMZ weiterhin innerdeutsche Flüge (Bonn-Berlin).

Bezüglich der Preise von Kompensationsprojekten im Globalen Süden machte eine Studie des Öko-Instituts und des WWF kürzlich einen neuen Vorschlag. Da die Studie davon ausgeht, dass die Industrieländer ihren Beitrag zum 1,5 Grad-Ziel nicht einhalten können, sondern das Budget überschreiten werden, schlugen sie vor, die Ambitions- und Umsetzungslücken durch ein Nichtausschöpfen der verbleibenden Emissionsbudgets anderer Staaten auszugleichen. Internationale Finanz- und Technologietransfers sollten Emissionsminderungen im Globalen Süden ermöglichen. Das klingt wie CO2-Kompensation, doch der Vorschlag unterscheidet sich vom bisherigen CO2-Kompensationsansatz. Denn die kostengünstigsten Vermeidungsoptionen sollten für die Länder im Globalen Süden selbst reserviert sein. Das bedeutet, dass von den Industrieländern Preise in Höhe von 50 bis 150 Euro pro Tonne CO2 gezahlt werden müssen. Eine Anrechnung der Projekte auf die einheimische CO2-Bilanz empfiehlt die Studie ausdrücklich nicht. 

Irreführende Produktkennzeichnungen

Neben Verwaltungen und Ministerien greifen auch immer mehr Unternehmen, die in kommunaler Hand sind, nach dem Klimaneutralitätsziel. Häufig machen die Stadtwerke, die für die Grundversorgung von Strom, Wasser und Wärme verantwortlich sind, von der CO2-Kompensation Gebrauch. Verstärkt durch den Druck der Politik, aber auch von Unternehmen, die Strom und Wärme von den Stadtwerken beziehen, fühlen sie sich genötigt, ihre Produkte möglichst klimafreundlich zu verkaufen. Da die Strom- und Wärmeerzeugung vieler Stadtwerke noch auf fossilen Energien wie Erdgas oder Kohle basiert und sich diese nicht innerhalb weniger Jahre auf erneuerbare Energien umstellen lässt, entscheiden sich manche Stadtwerke dafür, die Emissionen aus der Fernwärme oder aus dem Erdgas zu kompensieren. Dies führt zu irreführenden Produktkennzeichnungen wie klimaneutrales Erdgas oder CO2-neutrale Fernwärme.

Die Beispiele des öffentlichen Sektors zeigen, dass man aus vielen Klimaneutralitätszielen nicht herauslesen kann, wie die Klimaneutralität erreicht wurde. Es ist nicht transparent, welchen Anteil eigene Energieeinsparungen oder der Einsatz erneuerbarer Energien vor Ort zur Verringerung der CO2-Emissionen haben oder ob die Klimaneutralität größtenteils durch den Kauf von CO2-Zertifikaten erreicht wurde. In den meisten Fällen ist die »Klimaneutralität« auch im öffentlichen Sektor lediglich ein rechnerisches Ergebnis, das durch den Kauf von CO2-Ausgleichszertifikaten und der Anrechnung von Ökostrom erreicht wird. Ähnlich wie bei privaten Unternehmen stehen die Zertifikate, mit denen Projekte im Globalen Süden umgesetzt werden, ohne jeglichen Zusammenhang zur öffentlichen Hand. 

Während im privaten Sektor die Wettbewerbszentrale als Selbstkontrollinstitution der Wirtschaft auf diese Irreführungen aufmerksam machen kann, fehlt es in der öffentlichen Hand an Kontrollmechanismen. Wir brauchen daher eine unabhängige Instanz, die die Verlautbarungen zur Klimaneutralität und deren Einhaltung im öffentlichen Sektor überprüft. Ein bundesweiter Standard muss dafür sorgen, dass der Begriff Klimaneutralität einheitlich definiert ist und keine Schlupflöcher zulässt. Die Klimaneutralitätsziele der öffentlichen Hand müssen mit Konzepten, klaren Strategien, Budget und Personal ausgestattet werden, die dem Ziel gerecht werden. Zudem muss transparent aufgeführt werden, wie hoch der Anteil der kompensierten Emissionen ist. Denn letzten Endes zeigen die oben aufgeführten Beispiele, dass die öffentliche Hand sich genauso trickreich der »Klimaneutralität« nähert, wie es private Unternehmen tun.

Eva Rechsteiner

arbeitete bis vor kurzem am Institut für Energie- und Umweltforschung in Heidelberg mit Schwerpunkt kommunaler Klimaschutz. Sie engagiert sich in der Klimagerechtigkeitsbewegung und berät Gruppen wie Fridays for Future.