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Nach mir die Sintflut

Die türkische Regierung baut ein Staudammprojekt in Südostanatolien und bedroht die Lebensgrundlage der Menschen

Von Inés In und Taylan Musa

Panorama einer Flusslandschaft mit Ruinen
In Hasankeyf müssen die Bewohner*innen zusehen, wie ihr Ort der türkischen Machtpolitik zum Opfer fällt. Foto: sunriseOdyssey / Flickr, CC-BY-SA-2.0

In Nordkurdistan wird Wasser als Machtinstrument missbraucht. Die antike Stadt Hasankeyf steht kurz davor, in einen Stausee umgewandelt zu werden. Mit der Überflutung wird nicht nur jegliche Flora und Fauna, sondern auch ein jahrtausendealtes Kulturgut verschwinden. Das passiert nicht grundlos: Die Ausbeutung der Natur soll die koloniale Unterdrückung intensivieren.

Nordkurdistan ist schon immer eine Region, die unter extremer Trockenheit leidet. Der Euphrat und der Tigris versorgen jedoch große Teile der Region mit Wasser. Beide entspringen in der Türkei, die bereits in den 1980er Jahren in Südostanatolien ein mächtiges Staudammprojekt in Angriff genommen hat. Mit Hilfe des Güneydogu Anadolu Projesi (GAP) soll das Wasser der Flüsse zur Energiegewinnung und Bewässerung der eigenen Gebiete genutzt werden. Vorgesehen ist, das Gewässer an insgesamt 22 Dämmen zu stauen. Die Nebenflüsse und Ackerflächen der Kleinbäuerinnen und -bauern können durch sie entweder ausgetrocknet oder direkt geflutet werden. In beiden Fällen würde sich wieder einmal die Beherrschung der ökologischen Existenzgrundlagen der mehrheitlich kurdischen Bevölkerung seitens der Türkei zeigen.

Es gehe aber um die Gewinnung und Ausweitung der Elektrizität, so die türkische Regierung. Verwiesen wird auf die insgesamt 19 Kraftwerke, die an den beiden Flüssen 27.300 Gigawattstunden (GWh) Strom erzeugen werden. Das entspricht etwa zehn Prozent des aktuellen Energieverbrauchs der Türkei. Doch war schon früh genug festzustellen, dass es der Türkei mit dem GAP nicht nur um Elektrizität geht. »Ihr habt Öl, wir haben das Wasser«, drohte zu Beginn der 1990er Jahre Turgut Özal, der damalige Premierminister der Türkei, den beiden angrenzenden Nachbarstaaten Syrien und dem Irak mit Verweis auf deren Hauptexportgut.

Geschwächt von der wirtschaftlichen Stagnation hofft die türkische Bourgeoisie heute, durch die Megabauprojekte der AKP enorme Gewinne zu erzielen.

Seit Jahrzehnten sorgt also neben dem Öl das Wasser im Nahen und Mittleren Osten für politische Spannungen und Konflikte. So wird auch das Wasser Mesopotamiens vom türkischen Staat für die eigenen Interessen missbraucht. Als eines der weltweit größten Wasserkraft- und Bewässerungsprojekte hat das GAP bereits bedeutsame Opfer mit sich gebracht, wie zum Beispiel die antiken Städte Samosata und Zeugma. Ohne Rücksicht auf das kulturelle Erbe der Kurd*innen zu nehmen, wurden sie 1988 und 2000 mutwillig durch ein Stauseeprojekt zerstört.

Geschwächt von der wirtschaftlichen Stagnation hofft die türkische Bourgeoisie heute, durch die Megabauprojekte der AKP enorme Gewinne zu erzielen. So baut der türkische Staat derzeit für 1,7 Milliarden Dollar einen weiteren Staudamm des GAPs, den Ilisu-Staudamm, obwohl er eine Laufzeit von nur 50 Jahren haben wird. Dessen Inkrafttreten wird 55.000 Menschen in 199 Dörfern treffen. Auch circa 300 archäologische Fundstätten sollen komplett unter den Wassermengen begraben werden. Am aktuell bedrohlichsten ist die endgültige Überflutung Hasankeyfs. Die in einem Tal zwischen zwei großen Felsblöcken liegende Kleinstadt ist eine der wichtigsten architektonischen Stätten der Region. Aufgrund ihrer mittlerweile 12.000 Jahre alten Besiedlung wird die Region rund um das gerade mal 4.000 Einwohner*innen fassende Hasankeyf auch als die »Wiege der Zivilisation« bezeichnet.

Hasankeyf ist heute jedoch vergleichbar mit einer Geisterstadt. Seine Bewohnerinnen wurden in ein Neubaugebiet umgesiedelt. Yeni Hasankeyf (Neu-Hasankeyf) entsteht auf einem Hügel ganz in der Nähe der Stadt, von dem aus die Bevölkerung tagtäglich von dem Blick auf den großen Stausee gepeinigt wird. Dieser soll nun Touristinnen anziehen, die tauchend eine antike Stadt unter Wasser bewundern sollen. Die wenigen in Hasankeyf verbliebenen Menschen schauen schweren Herzens dem Verbrechen an einigen der antiken Bauten zu: Auf großen Tiefladern wurde unter anderem die 614 Jahre alte Er-Rizik-Moschee in einen zwei Kilometer entfernten, neu entstehenden Kulturpark abtransportiert.

Zahlreiche Höhlen, uralte Bauten und eine herausragende Felsburg werden in den kommenden Tagen verloren gehen. Obwohl zu wenige Häuser gebaut wurden, um die 4.000 Hasankeyferinnen unterzubringen, wurden die meisten von ihnen schon gezwungen, den Ort zu verlassen. Hierbei handelt es sich zum Großteil um Familien mit Kindern. Denn der türkische Staat ließ nach dem Sommer die Schule schließen und in Neu-Hasankeyf wieder eröffnen. In den wenigen Häusern leben deshalb bereits Menschen. Nichtsdestotrotz wurden in der neuen Siedlung bisher keine sanitären Anlagen installiert. Doch die Bewohnerinnen erhalten ihre »Entschädigung«, so der türkische Staat. Gemeint ist damit ein neues Haus, auf das jedoch nur Anrecht hat, wer zuvor Papiere für Haus oder Grundstück hatte. In vielen Fällen wurde der Grundbesitz der Kurd*innen jedoch über mehrere Generationen vererbt. Alle, die ihren Besitz nicht mit staatlich beglaubigten Urkunden nachweisen können, gehen also leer aus – sie verlieren von heute auf morgen das Dach über ihren Kopf.

Das ist nichts Neues für die Bevölkerung in Nordkurdistan. Schon bei Zwangsumsiedlungen am Euphrat, die ebenfalls durch das GAP entstanden sind, verloren einfache Bäuerinnen und Bauern mit ihrem Grundstück zugleich ihre Existenzgrundlage. Viele dieser Menschen leben heute unter der Armutsgrenze in den sowieso schon überfüllten Großstädten der Region.

Zerstörung der Natur als Mittel der Kriegsführung

Wie in anderen Gebieten wie beispielsweise am Jordan-Becken, am Nil oder auch in Lateinamerika stellt die Zerstörung der Natur daher keine Begleiterscheinung von Kriegen und Konflikten, sondern einen ganz bewussten Teil der Kriegsführung dar. So positionierte beispielsweise Erdogan islamistische Milizen in Afrin, nachdem er es 2018, ebenso völkerrechtswidrig wie jetzt Westkurdistan, angegriffen und besetzt hatte. Infolgedessen floh ein Großteil der Bevölkerung, um kein Massaker erleben zu müssen. Der türkische Staat hat inzwischen ihre Olivenhaine beschlagnahmt und auf ganzen Landstrichen Bäume abgeholzt. Ebenso wie bei der Kontrolle über Wasser geht es darum, die verbliebene Bevölkerung in die absolute Armut zu drängen, sodass auch sie sich irgendwann gezwungen sieht zu migrieren. In diesem Fall ist die ethnische Säuberung Ziel dieser Ermattungsstrategie.

Diese reicht mit dem GAP weit über die Grenzen der Türkei hinaus, unter anderem nach Rojava, das weiter flussabwärts des Euphrat liegt. Vor der dortigen Revolution wurde vom syrischen Regime unter Baschar-al-Assad für den Bau von Gebäuden und Schiffen so massiv abgeholzt, dass der Boden angefangen hat abzurutschen. Der Ausweitungsprozess der Wüste gen Rojava wird heute nicht nur durch den Klimawandel, sondern eben auch durch das GAP und dessen Staudämme am Euphrat verstärkt.

Der türkische Kolonialismus kennt keine Grenzen. Denn es geht darum, sich als regionale Macht mit einer lebendigen Wirtschaft behaupten zu können. Bereits bei den Präsidentschaftswahlen 2014 hatte Erdogan von großen Zielen für den 100. Jahrestag der Republikgründung im Jahr 2023 gesprochen. Neben Projekten in Istanbul, wie beispielsweise dem Bau eines Riesenflughafens, stellte er auch die Festlegung des Staatsgebiets zur Debatte. Die Grenzen der Türkei wurden 1923 ermittelt und bis auf eine Ausnahme seitdem nicht verändert. Die neoosmanischen Visionen sind auf einen 1920 vom türkischen Parlament beschlossenen Nationalpakt (Misak-i Millî) zurückzuführen. Dieser beansprucht unter anderem einen Teil Nordsyriens, das seit dem 9. Oktober 2019 okkupiert wird. Diese Manöver lenken zudem von der instabilen wirtschaftlichen Lage des Landes ab, für die die bürgerlich-kemalistische »Opposition« die AKP-Regierung verantwortlich macht. Infolge der heftigen Kritik verlor die AKP so viele Stimmen wie noch nie zuvor. Wenn es aber um die »Verteidigung nationaler Interessen« vor den Kurdinnen geht, sind Erdogan-Anhängerinnen und Kemalist*innen schnell einer Meinung, wie es auch bei der Invasion in Rojava der Fall war.

So wird auch Hasankeyf trotz Widerstand überflutet und untergehen. Menschen werden vertrieben, Natur und Kultur unwiderruflich zerstört. Das Interesse der AKP, die Ökonomie mit Bauprojekten wie dem Ilisu-Staudamm beleben zu wollen, wird trotzdem durchgesetzt. Erdogans Agieren hatte schon Karl Marx treffend zusammengefasst: »Nach mir die Sintflut! ist der Wahlruf jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation.«

Inés In

ist Sozialarbeiterin in Berlin und Redakteurin bei Klasse gegen Klasse.

Taylan Musa

Taylan Musa ist ein kurdischer Aktivist aus Berlin.