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Militär bei Fuß

Die schwedische Regierung setzt das Militär im Kampf gegen die Bandenkriminalität ein – das wird langfristig keinen Effekt haben

Von Gabriel Kuhn

Ende September hielt der schwedische Ministerpräsident Ulf Kristersson eine Rede an die Nation. Der Anlass war ein Thema, das der Vorsitzende der liberal-konservativen Moderaten Sammlungspartei seit dem Wahlkampf letztes Jahr mit großer Vorliebe bedient: die Bandenkriminalität. Erfunden ist das Thema nicht. Schon 45 Menschen wurden in diesem Jahr in Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Gruppen erschossen, 90 verletzt. Diese Zahlen lassen sich mit keinem anderen Land Europas vergleichen. Dazu kommen zahlreiche Bomben- und Brandanschläge.

Kristersson hielt seine Rede, als die Gewalt eskalierte. Zwölf Menschen wurden in knapp zwei Wochen umgebracht. Für Kristersson waren die Schuldigen schnell gefunden. Die »verantwortungslose Immigrationspolitik« der Sozialdemokrat*innen sei für die Situation verantwortlich. Die Lösung? Laut dem Ministerpräsidenten härtere Strafen, Jugendgefängnisse, Abschiebungen, Überwachungskameras, Abhörung, das ganze Programm.

Kristersson führt eine bürgerliche Regierungskoalition aus Moderaten, Christdemokrat*innen und Liberalen an, die auf die Unterstützung der im neonazistischen Milieu der 1980er Jahre gegründeten Schwedendemokraten angewiesen ist. In seiner Wild-West-Rede appellierte er nicht nur an die Polizei. Auch das Militär solle bei der Bekämpfung der Banden helfen. Eine Woche später wurde diese Zusammenarbeit amtlich. Der Oberbefehlshaber der schwedischen Streitkräfte Micael Bydén hatte bereits unmittelbar nach Kristerssons Rede erklärt, dass das Militär für die Aufgabe bereitstehe. In erster Linie soll es den Nachrichtendienst der Polizei unterstützen und Ausrüstung zur Verfügung stellen. Den Einsatz von Soldaten gegen Zivilpersonen verbietet das schwedische Gesetz. Doch die Regierung hat bereits eine Kommission eingesetzt, die eine entsprechende Gesetzesänderung vorbereiten soll. Die Befugnisse des schwedischen Militärs in Friedenszeiten wurden vehement eingeschränkt, nachdem Soldaten 1931 fünf streikende Arbeiter*innen in Ådalen erschossen hatten.

Man muss nicht linksradikal sein, um zu konstatieren, dass das bewährteste Mittel zur Vorbeugung von Gewalttaten soziale Gerechtigkeit ist.

Ein unmittelbarer Effekt der harten Linie Kristerssons war nicht zu spüren. In den frühen Morgenstunden des 10. Oktober wurden im Großraum Stockholm sieben Wohnhäuser in Brand gesteckt. Langfristig kann Kristerssons Linie keinen Effekt haben. Man muss nicht linksradikal sein, um zu konstatieren, dass das bewährteste Mittel zur Vorbeugung von Gewalttaten soziale Gerechtigkeit ist. Jede bürgerliche Studie bestätigt dies. Die sozialen Klüfte in der schwedischen Gesellschaft sind in den letzten 20 Jahren exponentiell gewachsen, Vorstandsvorsitzende in Unternehmen können heute 70 Mal mehr verdienen als gewöhnliche Angestellte. Nirgends in Europa wird in gleichem Maße privatisiert. Wer psychologische Hilfe braucht, kann Monate warten. Die schwedischen Städte sind enorm segregiert, der Zugang zu Schusswaffen fällt leicht, Gewalt wird in vielen Kreisen verherrlicht.

Dies führt zu unvermuteten Allianzen. Unter den Verdächtigen für die Morde im September ist ein ehemaliges Mitglied der neonazistischen Nordischen Widerstandsbewegung. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Neonazi den Weg in kriminelle Netzwerke fand, in denen Menschen unterschiedlichster Herkunft zusammenarbeiten.

Das Problem der Linken ist, dass die Betonung langfristiger Problembewältigung vielen Menschen am Arsch vorbeigeht. Die Menschen wollen, dass die Gewalt jetzt ein Ende nimmt. Wie das geschehen soll, darauf hat die Linke keine Antwort. Orientieren sollte sie sich an Initiativen, die in den am meisten betroffenen – einkommensschwachen und sozial vernachlässigten – Stadtvierteln entstehen. Das Projekt Helamalmö (Ganz Malmö) hat wesentlich dazu beigetragen, dass gewalttätige Auseinandersetzungen in der südschwedischen Metropole in nur wenigen Jahren stark zurückgingen. Die Menschen, die das Projekt betreiben, wuchsen vor Ort auf und setzen sich für Ausbildungs- und Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche ein. Ulf Kristersson kann damit nicht punkten, er schickt lieber das Militär. Die Tragödie wird sich so fortsetzen.

Gabriel Kuhn

lebt als Journalist und Autor in Schweden.