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Das Freizeitvirus

Erstmals gibt es eine ausformulierte Corona-Strategie von links

Von Nelli Tügel

Schwarzweißaufnahme von vier Viren
Das Virus mutiert, eine Variante hinterlässt derzeit im Vereinigten Königreich und in Irland Verheerungen. Foto: CDC / Dr. Fred Murphy

Es muss wohl ein Freizeitvirus sein.« Mit einer gehörigen Portion Sarkasmus reagierten viele Menschen auf die Anfang Januar verkündeten neuen Corona-Maßnahmen der Bundesregierung sowie der Länder. Denn während das Privatleben Stück um Stück eingeschränkt wird, laufen Fließbänder und Logistikzentren weiter, müssen Menschen nach wie vor in Fabrik und Büro gehen und sitzen dafür dicht gedrängt in Bus oder Bahn. »Sie können doch nicht alle Betriebe schließen«, so brachte kürzlich der sogenannte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger die Haltung mächtiger Kapitalfraktionen gegenüber der FAZ zum Ausdruck – und schob die Verantwortung für den ungebremsten Infektionsanstieg den Lohnabhängigen zu, die am Arbeitsplatz »soziale Kontakte« suchten.

Sehr viele Menschen – angesichts der Verheerungen, die eine Corona-Mutante derzeit im Vereinigten Königreich und in Irland hinterlässt vielleicht mehr als noch im vergangenen Frühjahr – sehen das anders als Dulger. Stimmen werden lauter, die fordern, dass alle, die können, ins Homeoffice gehen und alle nicht lebensnotwendigen Betriebe schließen sollten, um die Ausbreitung des Virus endlich effektiv einzudämmen. Und es stimmt ja: Geht es weiter wie bisher, drohen im besten Fall ein bis zwei Jahre mit einem Lockdown nach dem anderen, im schlechteren Fall die Ausbreitung der Corona-Mutante, die in England bereits dominant ist – und im schlimmsten Fall eine noch gefährlichere Mutation des Virus.

Vielleicht auch, weil derzeit so glasklar ist, dass Kalkulationen mit Menschenleben auf der einen und Profiten auf der anderen Seiten die Grundlage der deutschen Corona-Politik sind, hat sich nach vielen lähmenden Monaten für Linke in der Corona-Debatte ein kurzes Zeitfenster geöffnet, um zumindest wieder sprechfähig zu werden. Bitternötig ist es, denn allein in Deutschland sterben täglich mehr als 1.000 Menschen an einer Covid-Erkrankung – zugleich bricht der DAX ständig neue Rekorde. Die auf dieser Seite abgebildete Kurve könnte beides sein: Todeszahlen oder Börsenkurse.

Der deutlichste Ausdruck des Versuchs, endlich zu einer linken Strategie zu kommen, ist der Aufruf #ZeroCovid – Für einen solidarischen europäischen Shutdown. Das darin vorgeschlagene Programm ist das bislang beste und umfassendste, das hierzulande von links formuliert wurde. (mehr dazu auf Seite 3) Doch sprechfähig heißt noch nicht handlungsfähig: Ein fast unlösbarer Widerspruch bleibt, dass es für die Durchsetzung einer solidarischen, nicht-autoritären Zero-Covid-Strategie eine (mindestens europäische) Massenbewegung bräuchte, Basisorganisierungen in Betrieben, Stadtteilen und so weiter. Unter Corona noch schwerer zu machen als ohnehin schon. Ohne eine soziale, mobilisierte Basis aber droht der Zero-Covid-Aufruf ein Appell an Regierungen zu bleiben, ihre Staatsapparate einzusetzen. Daran gibt es – zu Recht – linke Kritik. Sprachlos, tatenlos und gelähmt Corona weiter beim Wüten zuzuschauen ist aber auch keine Option. In diesem Rahmen müssen wir uns verständigen – und aktiv werden.

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.