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Auftritt der Austeritätsapostel

In der Corona-Pandemie wurden massive staatliche Ausgabenprogramme aufgelegt – ein Einstieg in den Green New Deal?

Von Ingo Schmidt

Die modernen Apostel bringen eine Diagnose ins Spiel, die sich kaum überprüfen lässt: die Inflationserwartungen. Mit den alten Aposteln haben sie den Eifer gemeinsam. Foto: Wolfgang Sauber / Wikimedia, CC BY-SA 3.0

Auf einmal war alles anders. Nicht Investor*innen, Rechtsanwälte und Uniprofs gelten in der Corona-Pandemie als Leistungsträger*innen, sondern Pflegekräfte, Saisonarbeiter*innen und das Verkaufspersonal im Bäckerladen. Geld war genug da. Deutlich mehr für die Anleger*innen als für Mindestlohnarbeiter*innen und Hartz-IV-Beziehende. Aber immerhin. Ist das Geld erst mal im Umlauf, lässt es sich vielleicht auch umverteilen. Von reich zu arm. Von Benzin und Braunkohle zu Sonne- und Windkraft. Die Pandemie könnte zum Katalysator eines Green New Deal werden. Sicher ist das aber nicht. Rufe nach Austerität werden lauter.

Nach ein paar Ökobäuer*innen und der örtlichen Windkraftinitiative hat auch das große Geld das Thema Umwelt entdeckt. Nicht unbedingt aus Liebe zur Natur, sondern als neu zu erschließendes Anlagefeld. Daran fehlt es seit Jahren: Überkapazitäten gibt es in der Stahl-, Automobil- oder Computerproduktion und selbst bei der Softwareentwicklung – auch wenn vorübergehende Lieferengpässe bei Mikrochips etwas anderes suggerieren. Windräder und Sonnenkollektoren neben Kohle, Gas und Öl diversifizieren bestehende Geschäftsmodelle. Ein kompletter Ausstieg aus der fossilen Energie erfordert massive Investitionen. Sollte es dazu kommen, entstehen ganz neue Märkte. Und diesmal nicht nur an den Börsen, die sich hauptsächlich um sich selber drehen, Spekulationsblasen und Finanzkrisen produzieren und dem Kapitalismus insgesamt ein erhebliches Imageproblem eingetragen haben. Ein ökologischer Umbau würde dagegen die Realwirtschaft umkrempeln und dabei Arbeitsplätze schaffen. Vielleicht sogar die Lebensweise verändern. Das würde dem Image guttun, nachdem Staatskohle in den letzten Jahren für Pleitebanken immer da war, bei öffentlichen Einrichtungen vom Kindergarten bis zum Altersheim aber stets gekürzt wurde.

Kurz: Finanzmittel von Spekulation und staatlicher Bankenrettung hin in Richtung ökologischen Umbaus samt den dafür notwendigen Jobs umzuleiten, würde finanzielle Instabilitäten, soziale Ungleichheiten und Umweltbelastungen verringern. Eine Win-Win-Win-Situation. Zu schön, um wahr zu sein.

Unbegründete Inflationssorgen

Die Pandemie hatte kaum begonnen, die ersten staatlichen Ausgabenpakete waren auf den Weg gebracht, da machten sich schon die Austeritätsapostel an die Arbeit. Zunächst in den eigenen Reihen der Unternehmerverbände, in Wirtschaftspresse und Thinktanks. Die breite Öffentlichkeit war zu der Zeit vollauf mit Virus, Lockdown und dem Lob der Niedriglöhner*innen an der Corona-Front beschäftigt. Je länger sich die Pandemie hinzog, umso mehr drangen die Warnungen vor der Ausbreitung des Staatsausgabenvirus durch. Das untrügliche Symptom, so hieß es, sei ein Anstieg der Inflation, der hart erarbeitete Löhne und Vermögen auffresse.

Erst waren es die Lockdown-bedingten Unterbrechungen der Lieferketten, dann die Überflutung einer krisengeschüttelten Realwirtschaft mit staatlichen Geldern, zuletzt Kapazitätsengpässe eines heißlaufenden Konjunkturmotors, die als Inflationsursachen ausgegeben wurden. Einem Faktencheck halten diese Warnungen nicht stand. Wie jede andere Rezession ging auch die Corona-Rezession mit sinkenden Inflationsraten einher. Die massive Ausweitung der Staatsausgaben führte dann zur konjunkturellen Erholung. Nach den Preisrückgängen während der Rezession werden die gegenwärtigen Preissteigerungen statistisch überzeichnet – der unter Datensammler*innen wohlbekannte Basiseffekt. Von Kapazitätsengpässen und Arbeitskraftmangel kann keine Rede sein.

Laut IWF haben bereits in diesem Jahr 154 Länder die Austeritätswende vollzogen, für das nächste Jahr erwartet der Fonds eine entsprechende Politik in 159 Ländern.

Das wissen auch die Austeritätsapostel. Deswegen bringen sie eine Diagnose ins Spiel, die sich statistisch kaum überprüfen lässt: die Inflationserwartungen. Müssen Investor*innen mit einer Fortsetzung der lockeren Ausgabenpolitik, vielleicht sogar höheren Steuern auf Gewinne und Vermögen, rechnen, stellen sie weniger Finanzmittel zur Verfügung. In der Realwirtschaft gefangene Unternehmen müssen sich gegen höhere Steuern und Löhne durch Preissteigerungen zur Wehr setzen. Diese Variante der Inflationswarnung ist genau genommen eine Drohung: Über einen grünen Kapitalismus mit E-Autos lässt sich reden, über höhere Steuern und Löhne nicht.

Der Druck in Richtung Austeritätspolitik zeigt bereits Wirkung. Nach Amtsantritt im Januar versuchte Joe Biden, trotz denkbar knapper Mehrheit im Kongress ein massives Ausgabenprogramm auf den Weg zu bringen. Dafür feierten ihn Teile der Presse als neuen Roosevelt. Mittlerweile sucht er den Kompromiss mit den Republikanern. Mit einem drastischen Abspecken seiner Pläne ist er bereits in Vorleistung gegangen, obwohl die Republikaner eine offene Blockadepolitik betreiben. Die Suche nach Kompromissen mit den Kompromisslosen hat bereits die Change-Programme Bill Clintons und Barack Obamas gegen die Wand gefahren. Die Austeritätsapostel haben auch heute noch viele Freunde im politischen Establishment. Nicht nur in den USA. Laut Internationalem Währungsfonds haben bereits in diesem Jahr 154 Länder die Austeritätswende vollzogen, für das nächste Jahr erwartet der Fonds eine entsprechende Politik in 159 Ländern, in denen 85 Prozent der Weltbevölkerung leben.

Grüne Spekulation

Ganz gegen grün sind allerdings auch die neoliberalen Gegner*innen eines Green New Deal nicht. Die praktizierenden Investor*innen unter ihnen haben bereits im letzten Sommer, als die Corona-Rezession ihren Tiefpunkt erreicht hatte, in großem Maße in Rohstoffe investiert. Das Argument: Der Aufbau einer postfossilen Wirtschaft werde zu einem Rohstoffboom führen. Steigende Börsennotierungen nähmen diesen Boom vorweg, weisen aber zugleich auf die Schwachstelle eines kapitalistisch betriebenen Umbaus der Wirtschaft hin, ob mit oder ohne sozialer Komponente. Wenn die Verwertung des Kapitals doch wieder vom vermehrten Zugriff auf die Natur abhängt, wird es mit der Nachhaltigkeit nichts.

Dass steigende Preise für Kupfer und Eisen – Lithium übrigens nicht so sehr – nur begrenzt mit der kommenden Vergrünung des Kapitalismus zu tun haben, wird daran deutlich, dass gleichzeitig die Preise für fossile Energien, Lebensmittel und Eigenheime steigen. Im Gleichlauf mit den Aktienkursen. Das alles sieht ehr nach einer neuen Spekulationsblase mit begrenztem Effekt auf produktives Kapital und Beschäftigung aus als dem Einstieg in eine ökologische Produktivkraftentwicklung. Wie bereits in der Vergangenheit gelten steigende Börsennotierungen den Austeritätsaposteln nicht als Inflation, sondern bezeugen das Vertrauen in die Zukunft. Also das Vertrauen darauf, dass es keinen Green New Deal geben wird.

Ob dieses Vertrauen gerechtfertigt ist, wird sich zeigen. Das letzte Mal, als Austerität, boomende Finanzmärkte und steigende Lebensmittelpreise gleichzeitig auftraten, war 2010. Die Folgen waren Hunger und Verzweiflung in vielen armen Ländern. Aber auch der Arabische Frühling und Occupy.

Ingo Schmidt

ist marxistischer Ökonom und lebt in Kanada und in Deutschland.