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Jung und abgehängt

Der Sozialsparkurs trifft die Kinder- und Jugendhilfe hart

Von Yaro Allisat

Als der WG-Betreuer die Wohnung verlässt, dreht Madeleine (Name von der Redaktion geändert) sich zu mir um und rollt mit den Augen. Er hat der 17-Jährigen gerade eine Standpauke zur Hausordnung gehalten. Madeleine kann die meisten Betreuer*innen der sächsischen Jugendhilfe-Einrichtung, in der sie lebt, nicht leiden. Deren Aufgabe scheine nur zu sein, dafür zu sorgen, dass Madeleine nicht stirbt, für mehr hätten sie eh keine Zeit.

Madeleine hat zig WGs, betreute Wohnungen und Notunterbringungen hinter sich. Bei ihren Eltern kann und will sie wegen des gewalttätigen Vaters nicht mehr leben. Die Suche nach einer passenden WG ist für Madeleine jedes Mal eine langwierige Angelegenheit, da sie chronisch krank ist und viele Einrichtungen daher nicht infrage kommen. Teilweise lebte Madeleine tagelang auf der Straße.

Diesen Weg gehen viele Kinder im Jugendhilfesystem, wenn sie krank oder traumatisiert sind. Es fehlt an genügend und spezialisierten Einrichtungen und an Sozialarbeiter*innen, die meisten Einrichtungen sind überlastet. Wie sich der aktuelle Sozialsparkurs auf die Kinder- und Jugendhilfe auswirken wird, steht noch in den Sternen. Verbände und Träger sagen jedoch klar: Es braucht deutlich mehr Geld.

Obwohl es ständig heißt, Schulden würden nur zulasten der kommenden Generationen gehen, werden schuldenfinanzierte Sondervermögen für die Aufrüstung ermöglicht, während gleichzeitig an genau jener kommenden Generation gespart wird. Im vergangenen Jahr konnten massive Kürzungen nur durch Druck von Vereinen und Verbänden abgewendet werden. Im aktuellen Haushalt ist keine Erhöhung der Gelder für die Kinder- und Jugendhilfe vorgesehen, was aufgrund der Inflation zu faktischen Kürzungen führt. Im Koalitionsvertrag ist zwar ein Kinder- und Jugendhilfeplan (KJP) festgeschrieben, dem Deutschen Jugendring zufolge müsse man jedoch abwarten, ob dieser ein bloßes Lippenbekenntnis bleibe. Bereits seit Jahren beklagen Jugendhilfeträger, dass systematisch zu wenig Geld in Kinder- und Jugendhilfe gesteckt werde.

Das Kinder- und Jugendhilfesystem ist integral gedacht, das heißt, dass es in der Prävention (Schulsozialarbeit, Offene Jugendtreffs, Familien- und Erziehungshilfen), der Intervention (stationäre Unterbringungen in WGs) und Kitas und Schulen selbst zusammenhängende Angebote schafft. Wird nun beispielsweise bei den Kitas gekürzt, wirkt sich das auf die Qualität der Betreuung aus. Dies belastet wiederum die Familien und insbesondere die Kinder selbst. Der Bedarf nach Erziehungshilfen kann so erst erkannt werden, wenn es eigentlich schon zu spät ist. Schon jetzt fehlen allerdings auch für Familienhilfen die Kapazitäten in den meisten Jugendämtern. So nimmt man die Kinder tendenziell aus den Familien heraus, anstatt mit den Familien gemeinsam Lösungen zu finden. Gerade Kürzungen bei den präventiven Angeboten, so Daniela Keeß vom Internationalen Bund (IB) gegenüber ak, seien fatal.

Dass aktuell über Kürzungen geredet wird, lässt in den Hintergrund rücken, dass eigentlich massive Aufstockungen in der Kinder- und Jugendhilfe notwendig wären.

Dass aktuell über Kürzungen geredet wird, lässt in den Hintergrund rücken, dass eigentlich massive Aufstockungen in der Kinder- und Jugendhilfe notwendig wären. Verbände wie der Deutsche Bundesjugendring fordern eine bedarfsgerechte Ausstattung im KJP mit mehr Geldern sowie eine Anpassung der Finanzen an die Inflation.

Doch nicht nur die konkreten jugendpolitischen Instrumente spielen eine Rolle. Hinzu kommen in vielen Bundesländern angekündigte Kürzungen in der Demokratie- und Integrationsarbeit. Ein Beispiel ist Sachsen, wo aktuell der Doppelhaushalt 2025/26 von der schwarz-roten Minderheitsregierung ausgehandelt wird. Dieser sieht mögliche Kürzungen bei den Fördermitteln für Geflüchteten-, Gleichstellungs- und Demokratiearbeit von rund 37 Millionen Euro im Jahr 2024 auf 17 Millionen Euro vor. Das ist eine Einsparung von 53 Prozent, die letztlich vor allem soziale Vereine auf dem Land betreffen wird, so dass auch Kinder und Jugendliche dort weniger Freizeit-, Hausaufgaben- oder Ansprechmöglichkeiten haben. Gleichzeitig setzt die Landesregierung das im vergangenen September beschlossene Kita-Moratorium für die Stärkung der Erziehung nicht um. Auf kommunaler Ebene übersetzt sich zudem die Stärkung der AfD teilweise direkt in die Kürzungen bei sozialen Projekten. So berichtet die Linken-Stadt- und Landtagsabgeordnete Jule Nagel, dass Mehrheiten aus AfD, CDU und Freien Wählern zur Kürzung des Jugendprojekts Buntes Meissen oder der Förderung des Netzwerk für Demokratische Kultur e.V. in Wurzen geführt haben.

Madeleine wird dieses Jahr 18. Sollten ihre Hilfen nicht verlängert werden, steht sie dann ganz allein da. Denn ihre Eltern sind kein Unterstützungsnetzwerk für sie, und um den Austritt aus dem Jugendhilfesystem zu begleiten und die jungen Erwachsenen nicht ins kalte Wasser zu werfen, fehlt es an Angeboten, Geld und Menschen.

Yaro Allisat

ist freier Journalist und aktiv in der Klimagerechtigkeitsbewegung und bei der Refugee Law Clinic Leipzig als Berater im Asyl- und Aufenthaltsrecht.