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Um Werte geht’s hier nicht

Das Investitions­­­abkommen zwischen China und der EU schreibt die Regeln des globalen Handels fort – Arbeits­rechte gehören nicht dazu

Von Merle Groneweg

Befahrene Straße im nächtlichen Peking (2016)
Peking bei Nacht. Geht es nach der Industrie, sollen hier künftig noch mehr europäische Autos unterwegs sein als jetzt schon: Etwa 15 Prozent der EU-Investitionen fließen in den chinesischen Automobilsektor. Foto: Andrey Filippov 安德烈/Flickr, CC BY 2.0

Beinahe ein Jahr ist es her, dass die Kommission der Europäischen Union und die chinesische Regierung eine Grundsatzeinigung über ein »umfassendes Investitionsabkommen« (Comprehensive Agreement on Investment, kurz: CAI) erzielt haben. Der Abschluss der Verhandlungen am 30. Dezember 2020 kam überraschend, die Aufregung war groß – und dass, obwohl es auf beiden Seiten kaum tiefgreifende, neue Zugeständnisse gab. Trotzdem sparte die EU-Kommission nicht an großen Worten: Die Grundsatzeinigung sei »ein wichtiger Meilenstein« in den Beziehungen zu China und Teil der »wertebasierten Handelsagenda« der EU, so Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Diese Aussage flog ihr bald um die Ohren: Der China-Deal schade der Glaubwürdigkeit der EU in Hinblick auf die Menschenrechte, kritisierten nicht zuletzt zahlreiche Abgeordnete des Europäischen Parlaments. Zwei Monate später wollten die Abgeordneten zeigen, dass es ihnen mit den Menschenrechten ernst ist: Am 22. März 2021, votierte das Europäische Parlament dafür, vier hochrangige chinesische Beamte wegen ihrer Rolle bei der Masseninternierung in Xinjiang zu sanktionieren. Die chinesische Regierung reagierte augenblicklich und verhängte ihrerseits Sanktionen, unter anderem gegen fünf Abgeordnete des Europäischen Parlaments. Ein Tiefpunkt in den diplomatischen Beziehungen – und das vorläufige Aus von CAI. Denn die EU-Parlamentarier*innen sprachen sich schließlich dafür aus, sich erst dann wieder mit dem Investitionsabkommen zu befassen, wenn China die Sanktionen aufhebt.

Enttäuschung der Industrie

Das ist bis jetzt nicht der Fall – und so wird nichts aus der ursprünglich für die erste Jahreshälfte 2022 vorgesehenen Ratifizierung des Investitionsabkommens. Stattdessen ist die Zukunft von CAI so ungewiss wie jene der China-EU-Beziehungen. Während sich die Spannungen zwischen der Volksrepublik und den USA intensivieren, sucht die EU nach einem eigenen Weg, ihr Verhältnis zu China zu bestimmen und zu gestalten. Zu den offiziellen Zielen des geplanten Investitionsabkommens zählt, die ökonomischen Beziehungen zwischen China und der EU wieder stärker »auszubalancieren«. Die Volksrepublik hat seit der Politik der »Reform und Öffnung« unter Deng Xiaoping ab 1978 eine graduelle, sektorenspezifische Liberalisierung verfolgt. Gleichzeitig sind viele chinesische Unternehmen weiterhin vor ausländischer Konkurrenz geschützt worden oder haben staatliche Unterstützung, etwa in Form von Subventionen, erhalten.

Ebenfalls wichtig für die Förderung der chinesischen Wirtschaft sind geschlossene Märkte für öffentliche Beschaffungen, Vorgaben für die Nutzung lokaler (Teil-)Produkte und »Joint-Venture«-Anforderungen (ausländische Unternehmen müssen sich mit chinesischen Partnern zusammenschließen, was mit dem »erzwungenen« Transfer von Technologie und entsprechendem Know-How einhergehen kann).  Auch wegen dieser grundlegenden Charakteristika des chinesischen Wirtschaftssystems gehört die Volksrepublik zu einem der wenigen Staaten weltweit, dem es in den vergangenen Jahrzehnten gelungen ist, ein sehr hohes Wirtschaftswachstum zu erzielen – und damit zu einem politischen wie ökonomischen Herausforderer des Westens zu werden.

Die EU sucht mit CAI nach einem eigenen Weg, ihr Verhältnis zu China neu zu bestimmen und zu gestalten.

Ausländische Investor*innen und Unternehmen, darunter viele europäische, halten von den oben genannten Maßnahmen ohnehin nicht viel – aus ihrer Sicht verhindern sie das »Level Playing Field«, also einen gleichberechtigten Wettbewerb. Insbesondere die Frage des Technologietransfers war zwischen der EU und China immer wieder ein Streitpunkt. CAI verspricht nun sektorale (Teil-)Öffnungen für EU-Unternehmen in China, etwa im verarbeitenden Gewerbe sowie für Finanz-, Umwelt-, Gesundheits- und andere Dienstleistungen. Mehr als die Hälfte der EU-Investitionen in China gehen in das verarbeitende Gewerbe, davon allein 28 Prozent in den Automobilsektor. Quantitative Restriktionen, Joint-Venture-Anforderungen, Technologietransfers oder sogenannte Equity Caps (Obergrenzen für ausländische Beteiligungen) sollen für viele Sektoren abgeschafft werden. Einige der genannten Liberalisierungen wurden jedoch bereits in einem 2020 in der Volksrepublik in Kraft getretenen Auslandsinvestitionsgesetz festgelegt (Foreign Investment Law; FIL). So zeigt sich der Bundesverband der Deutschen Industrie in der Bewertung des Abkommens alles andere als euphorisch: »In den Bereichen Marktzugang und Level Playing Field schreiben die gemachten Zusagen von chinesischer Seite weitgehend einen bereits über die letzten Jahre erreichten Status quo fest. Das CAI würde die Situation für europäische Unternehmen in China in einigen Bereichen verbessern, aber nicht grundlegend ändern.« Hingegen ist CAI für die chinesische Regierung vor allem eine politische Absicherung gegenüber der wachsenden Sorge, dass europäische Unternehmen und Investor*innen sich auch aufgrund des Drucks aus den USA zunehmend von China abwenden.

Altbekannte Unverbindlichkeiten

Handelspolitische NGOs kritisieren, dass sich die EU-Kommission mit CAI noch einen weiteren Schritt von der Behauptung ihrer wertebasierten Handelspolitik entfernt. Wie andere Handels- und Investitionsabkommen auch beinhaltet CAI zwar ein Nachhaltigkeitskapitel, doch dessen Bestimmungen sind nicht verbindlich. So erkennen die beiden Vertragsparteien von CAI in blumiger Sprache den »wichtigen Beitrag von Corporate Social Responsibility für die Stärkung der positiven Rolle von Investitionen für nachhaltiges Wachstum« an oder bekennen sich erneut zum Pariser Klimaabkommen. Weder werden neue Verpflichtungen eingegangen noch konkrete Maßnahmen genannt, stattdessen verweisen die Vertragsparteien auf ihr jeweiliges Recht, »ihr eigenes Niveau des innerstaatlichen Arbeits- und Umweltschutzes festzulegen (…), in Übereinstimmung mit ihren multilateralen Verpflichtungen in den Bereichen Arbeit und Umwelt.«

Dabei ist die Volksrepublik China nicht einmal alle relevanten multilateralen Verpflichtungen im Bereich der Arbeit eingegangen. Bisher hat die chinesische Regierung nur vier der acht grundlegenden Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organisation; ILO) ratifiziert. Die NGO Globalization Monitor mit Sitz in Hongkong kritisiert, dass CAI keine Ratifizierung der grundlegenden ILO-Übereinkommen über die Vereinigungsfreiheit und das Recht, sich zu organisieren und Tarifverhandlungen zu führen (ILO C087 und ILO C098), verlangt. Die beiden ILO-Übereinkommen zur Abschaffung der Zwangsarbeit (ILO 29; 1930 und ILO 105; 1957) werden zwar erwähnt, doch auch hier bleibt es der chinesischen Regierung selbst überlassen, ob und wann sie diese ratifiziert. Wäre es der EU-Kommission tatsächlich ein Anliegen gewesen, einen Anstoß für eine Verbesserung der Arbeitsnormen in China zu geben, hätte sie das Abkommen von der Ratifizierung der ILO-Kernarbeitsnormen abhängig machen können.

Späte Erkenntnisse

Doch so ernst scheint es weder der Europäischen Kommission noch dem Europäischen Parlament mit ihrer wertebasierten Handelsagenda zu sein. Im September 2021 haben die Parlamentarier*innen mit großer Mehrheit an der Ablehnung von CAI festgehalten. Doch dies wird primär mit den weiterhin bestehenden Sanktionen gegenüber EU-Abgeordneten begründet – und damit, dass Handelsbeziehungen »nicht in einem Vakuum stattfinden«. Die politische Gesamtsituation soll also berücksichtigt werden. Eine späte Erkenntnis. Europäische Investor*innen und Unternehmen haben jahrelang von den großen Wachstumsmöglichkeiten des chinesischen Markts, aber eben insbesondere auch von den niedrigen Umwelt- und Arbeitsstandards in China profitiert. Diese waren und sind stets eingebettet – in globale Produktionsnetzwerke, aber eben auch in ein lokales politisches System. Die Einschränkung von Grundrechten, zu denen auch die massive Repression zivilgesellschaftlicher Aktivitäten gehört, ist alles andere als neu.

Klar ist: Die chinesische Regierungspolitik sollte nicht verharmlost, aber eben auch nicht dämonisiert werden. Dass die Kritik an dieser hierzulande wieder schärfer wird, steht jedoch deutlich im Zusammenhang mit dem Ringen um die weitere Ausgestaltung globaler Handelsbeziehungen. Wünschenswert wäre es, wenn sich dieses Ringen nicht um politische Macht, sondern um eine emanzipatorische globale Wirtschaftsweise drehen würde. Doch dem ist nicht so. Deshalb sollte sich die Kritik an CAI nicht primär darauf beziehen, dass das Investitionsabkommen mit der Volksrepublik China abgeschlossen werden soll – sondern darauf, dass das Abkommen ökonomische Liberalisierungen zugunsten exportorientierter, global agierender Unternehmen und Investor*innen global weiter festschreibt, während Klima- und Umweltschutz, Menschenrechts-, Arbeits- und Sozialstandards äußerst vage bleiben. Und das hat CAI gemeinsam mit den anderen Handels- und Investitionsabkommen der EU, die diese regelmäßig verhandelt.

Merle Groneweg

schreibt über den globalen Kapitalismus. Zu ihren Schwerpunkten gehören Rohstoff- und Handelspolitik ebenso wie Konflikte in den China-USA-Beziehungen. Sie arbeitet für kritische Medien und NGOs, darunter PowerShift e.V.