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Eine Inszenierung, in der nicht für alle Platz war

Wie Gerichte den gesellschaftlichen Rassismus reproduzieren, zeigte sich erneut im Halle-Prozess

Von Ilil Friedman

Generalbundesanwalt und Gericht glauben nicht, dass der Täter Aftax Ibrahim überfahren wollte. Auch habe er dessen Tod durch sein Fahrmanöver nicht in Kauf genommen. Ein versuchter Mord sei es deshalb nicht, sondern eben ein Unfall, ein Versehen. Foto: ACBahn/Wikimedia , CC BY 3.0

Ein Gerichtsprozess zeichnet sich nicht nur dadurch aus, was dort geschieht und als geschehen festgestellt wird, sondern auch durch das, was nicht geschieht, nicht thematisiert wird, durch seine Leerstellen und Versäumnisse. Als sich am 9. Oktober 2019 ein rechtsextremer, hasserfüllter Mann aufmacht, mittels selbstgebauter Waffen die Synagoge in Halle zu überfallen, versteht er dies als Auftakt zu einem Feldzug gegen Schwarze, muslimische und jüdische Menschen. Während er mit seinem Vorhaben in die Synagoge einzudringen scheitert, erschießt er Jana L., die zufällig den Tatort passiert. Anschließend fasst er den Plan, in die Innenstadt zu fahren, »die immer voller Muslime und N[…]« sei, um möglichst viele von ihnen zu töten. Er sieht in dem Kiez-Döner ein geeignetes Ziel und ermordet dort Kevin S. Nach einem Schusswechsel mit eingetroffenen Polizist*innen flüchtet der Attentäter.

Die nun folgende halsbrecherische Autofahrt durch die Stadt führt ihn an einer Straßenbahnhaltestelle in der Magdeburger Straße vorbei. Im Prozess wird er angeben, schon beim Heranfahren gesehen zu haben, dass dort eine Schwarze Person steht. Die dunkle Hautfarbe sei deutlich zu erkennen gewesen. Es handelt sich um Aftax Ibrahim, einen jungen Mann aus Somalia, der aus der Straßenbahn ausgestiegen und im Begriff ist, zusammen mit einem Freund die Straße zu überqueren. Die Haltestelle befindet sich auf einer Verkehrsinsel, zu beiden Seiten verläuft die Fahrbahn nur in jeweils eine Richtung.

Für den Attentäter führt der Weg deshalb eigentlich rechts an der Insel vorbei, Aftax Ibrahim überquert die Straße aus dieser Perspektive hingegen nach links. Das sich in der Ferne auf der anderen Fahrbahn nähernde Auto bemerkt er nicht. Doch der Attentäter wechselt auf einmal in den Gegenverkehr auf die linke Fahrbahn und rast auf Aftax Ibrahim zu. Er bremst nicht, weicht nicht aus. Im letzten Moment bemerkt der Freund das Fahrzeug, ruft Aftax Ibrahim eine Warnung zu, der zur Seite hechtet. Er wird noch vom Seitenspiegel erwischt und zieht sich durch den Sturz Verletzungen am Bein zu. Der Angreifer fährt bei der nächsten Gelegenheit wieder auf die richtige Fahrspur zurück.

Der bekennende Rassist und Mehrfachmörder, der plante, »möglichst viele Muslime und Schwarze auf der Straße« zu töten und hierfür bereit war, seinen eigenen Tod in Kauf zu nehmen, wird für das Anfahren von Aftax Ibrahim wegen fahrlässiger Körperverletzung angeklagt und verurteilt. Generalbundesanwalt und Gericht glauben nicht, dass er Aftax Ibrahim überfahren wollte. Auch habe er dessen Tod durch sein Fahrmanöver nicht in Kauf genommen. Ein versuchter Mord sei es deshalb nicht, sondern eben ein Unfall, ein Versehen.

Da er sich auf der Flucht befunden habe, sei es ihm nur darum gegangen, schnell wegzukommen, und nicht darum, Aftax Ibrahim zu überfahren, denn das hätte seine Flucht gefährdet. Dafür spricht demnach, dass der Attentäter gegenüber der Polizei angegeben hatte, es wäre ihm zwar rückblickend recht gewesen, wenn er Aftax Ibrahim getötet hätte, er habe es in dem Moment aber nicht darauf angelegt. Er frage sich sogar, warum er nicht angehalten habe, um ihn noch zu erschießen.

Warum, so steht es im Urteil, sollte jemand, der sogar stolz auf den Mord gewesen wäre, einen solchen Versuch nicht einräumen? Man glaubt ihm deshalb. Nicht gefragt wird im Urteil allerdings, warum der Attentäter dann unter anderem auch behauptet hatte, er habe nicht gewusst, ob in der von ihm angegriffenen Synagoge zu diesem Zeitpunkt überhaupt Menschen gewesen seien; dass er zwar eine Nagelbombe in den Kiez-Döner geworfen, aber nicht beabsichtigt habe, damit jemanden zu töten; dass er nicht vorgehabt habe, die Polizist*innen, auf die er geschossen hat, zu treffen – kurzum: warum er für einen Großteil seiner Taten seine mörderische Absicht auf abwegigste Weise geleugnet hat. Diese Angaben hat das Gericht durchweg als Schutzbehauptungen abgetan und für unglaubhaft erachtet, während es dem Angeklagten bezüglich Aftax Ibrahims Fall Glauben schenkt.

Ein lückenhaftes Urteil

Juristisch weist das Urteil daneben zwei entscheidende Lücken auf, die die Verurteilung wegen bloßer Fahrlässigkeit anstelle von versuchtem Mord möglich machen. Die erste betrifft die Frage der Absicht. Der Attentäter hat abgestritten, absichtlich auf Aftax Ibrahim zugefahren zu sein. Schwer zu erklären ist dann aber, warum er auf die Gegenfahrbahn steuerte, wo er mit Aftax Ibrahim kollidierte, und danach wieder zurück auf seine eigene Fahrbahn fuhr. Laut Urteil habe nicht sicher festgestellt werden können, warum er dies tat – wahrscheinlich habe er nur die gerade abgefahrene Straßenbahn überholen wollen.

Der Angeklagte selbst hat das allerdings nie behauptet; diese Vermutung bringen Bundesanwaltschaft und Gericht selbst ein. Das Gericht sagt zudem: Ein absichtliches Anfahren hätte dem Vorhaben des Attentäters widersprochen, sein Ziel weiterzuverfolgen. Dabei vergisst das Gericht offenbar, worin dieses Ziel lag: Menschen wie Aftax Ibrahim zu töten.

Die zweite Fehlstelle dreht sich um den sogenannten bedingten Vorsatz. Vorsätzlich tötet nicht nur, wer dies absichtlich und zielgerichtet tut, sondern auch, wer den Tod anderer »billigend in Kauf nimmt«, um ein anderes Ziel zu erreichen. Das ist der Fall, wenn der Täter es mit seinem Vorgehen nicht direkt darauf anlegt, den anderen zu töten, aber weiß, dass diese Gefahr besteht, und trotzdem so handelt. Er ordnet das Leben des anderen dann seinen eigenen Zielen unter.

Bekanntes Beispiel sind die »Raser-Fälle«, in denen sich junge Männer nachts illegale Autorennen auf den Straßen deutscher Großstädte liefern. Niemand behauptet, dass die Fahrer absichtlich tödliche Unfälle herbeiführen. Im Gegenteil, sie wollen es vermeiden, da sie sonst das Rennen verlieren, ihr Fahrzeug zerstören und möglicherweise selbst ums Leben kommen könnten. Verursachen sie aber durch ihr gefährliches Verhalten dennoch einen Zusammenstoß, sind sich die Gerichte einig, dass es sich um Mord handelt (bzw. einen Mordversuch, wenn das Opfer überlebt).

Denn wer so fährt, dass er eine Kollision mit potenziell tödlichem Ausgang im Zweifel nicht mehr verhindern kann, handelt bedingt vorsätzlich, auch wenn er hofft, dass es nicht dazu kommt: Er nimmt diesen Ausgang eben billigend in Kauf.

Wendet man diese obergerichtliche Rechtsprechung an, muss man auch den Attentäter von Halle wegen versuchten Mordes an Aftax Ibrahim verurteilen. Im Prozess gibt er an, Aftax Ibrahim schon beim Heranfahren gesehen zu haben. Es sei ihm auch bewusst gewesen, dass es nun zu einer Kollision kommen könnte. Ausweichen habe er nicht gut können, ohne sich selbst oder seine Flucht zu gefährden.

Dass er Aftax Ibrahims Leben damit hätte schützen können, habe für ihn bei dieser Abwägung keine Rolle gespielt, diese Frage der Nebenklage bringt ihn in der Verhandlung sogar zum Lachen. Lachend beantwortet er auch die Frage, ob er für eine weiße Person eher versucht hätte, auszuweichen: »Auf jeden Fall, ja«.

Nimmt man an, der Attentäter habe Aftax Ibrahim nicht absichtlich angefahren, sondern ›nur‹ um jeden Preis flüchten wollen, liegt rechtlich also ein bedingter Vorsatz vor: Das Leben von Aftax Ibrahim ist ihm bestenfalls egal, dessen Tod sogar ein wünschenswerter Nebeneffekt. Seiner Flucht ordnet er dieses Schwarze Leben ohne Weiteres unter. Obwohl er weiß, dass ein potenziell tödlicher Zusammenstoß naht, fährt er viel zu schnell, versucht nicht abzubremsen, macht keine Anstalten auszuweichen, wie er es für eine weiße Person getan hätte.

Er betätigt nicht einmal seine Hupe. Deutlicher kann ein billigendes Inkaufnehmen kaum vorliegen. Im Urteil steht trotzdem, der Angeklagte sei wahrscheinlich davon ausgegangen, die Haltestelle ohne Kollision umfahren zu können. Hinzu komme, dass Aftax Ibrahim und seinem Freund das Überqueren der Fahrbahn an dieser Stelle nicht erlaubt gewesen sei.

Die Nichtbefassung mit Rassismus

Welche Rolle spielt das alles noch? Der Attentäter ist wegen zweifachen Mordes und zahlreicher Mordversuche unter Feststellung der besonderen Schwere der Schuld zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden. Es fällt für das Strafmaß nicht ins Gewicht, ob es ein weiterer versuchter Mord oder eine fahrlässige Körperverletzung war. Für Aftax Ibrahim hat die Tat und insbesondere deren Anerkennung als rassistischer Angriff aber Gewicht. Und es ist kein Zufall, dass Generalbundesanwalt und Gericht sie als bloße Fahrlässigkeit werten.

İsmet Tekin, einer der heutigen Betreiber des Kiez-Döners, verschwindet in der Entscheidung auf ähnliche Weise. Als der Attentäter sich ein Feuergefecht mit den Polizist*innen liefert, die sich hinter ihre Fahrzeuge ducken, läuft er gerade die Straße zum Döner-Imbiss hinauf, um seinen jüngeren Bruder vor dem Attentäter zu beschützen. Kugeln schlagen in die Wand hinter ihm ein. Durch Zufall wird er nicht getroffen. Das Gericht stellt fest, der Attentäter habe gegenüber jedem der fünf anwesenden Polizist*innen einen Tötungsvorsatz gehabt, weil er diese alle habe treffen können.

Sie einzeln wahrnehmen oder einzeln auf sie schießen musste er dafür nicht, er wird auch so wegen fünffach versuchten Mordes verurteilt. Gegenüber İsmet Tekin habe sich hingegen kein Tötungsvorsatz nachweisen lassen, weil er diesen nicht wahrgenommen habe. Hierfür gibt es keine Verurteilung. Der Prozess folgt hier einer bestimmten Inszenierung, in der nicht für alle Platz war.

Aftax Ibrahim ist von dem Tatgeschehen psychisch schwer belastet. Im Krankenhaus erfuhr er, dass derjenige, der ihn beinahe überfahren hatte, ein antisemitischer und rassistischer Attentäter war, der zuvor mehrere Menschen getötet hatte. Ihm wird bewusst, dass er das dritte Mordopfer dieser Tat hätte sein können. In den Ermittlungen wird er als Geschädigter eines Verkehrsunfalls geführt.

Im Prozess bleibt sein Fall überwiegend eine Randnotiz; die meisten Menschen wissen nichts von seinem Schicksal. Dass für ihn der Angriff eine konsequente Fortführung der ständigen rassistischen Vorfälle und Beleidigungen darstellt, die für ihn zum Alltag gehören, dass er sich sicher ist, dass ihn, wenn es so weitergeht, irgendwann einer dieser Rassisten umbringen wird, dass es für ihn eben kein »Verkehrsunfall« und nicht »vorbei« ist – all das kann man im Urteil nicht lesen.

Dass der Attentäter von Halle ein Rassist ist, wurde von der Justiz vorausgesetzt und abgehakt, bevor man zu genau hinsehen musste. Bevor man hätte fragen müssen, was ein rassistischer Mörder mit dem rassistischen Alltag in Deutschland zu tun hat. Und ohne zu fragen, was es bedeutet, wenn ein solcher Rassist ausgerechnet einen Schwarzen Menschen anfährt. Wenn er lachend sagt, für einen Weißen wäre er eher ausgewichen, bleibt es dennoch ein Unfall, ein Kollateralschaden. Stattdessen wurde durch die Verwendung von rassistischer Sprache im Gericht während des Prozesses der gesellschaftlich verankerte strukturelle Rassismus weiter aufrechterhalten.

Auch für die Justiz bleibt Aftax Ibrahim so weitgehend unsichtbar, verschwindet wieder in der Allgemeinheit, in der aus ihrem Sicherheitsgefühl aufgeschreckten Bürgerschaft.

Die Generalbundesanwaltschaft betont in ihrem Schlussvortrag, der Anschlag stelle »einen tiefen Einschnitt dar, nicht nur für die unmittelbaren Opfer, sondern auch für die unvermittelt aus ihrem Gefühl der Sicherheit herausgerissenen Bürgerinnen und Bürger der Stadt Halle« und »alle in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Menschen, egal welcher Herkunft«. Auch für die Justiz bleibt Aftax Ibrahim so weitgehend unsichtbar, verschwindet wieder in der Allgemeinheit, in der aus ihrem Sicherheitsgefühl aufgeschreckten Bürgerschaft. Doch dort, außerhalb der Wände des Magdeburger Gerichtssaals, gilt eine andere Wahrheit: Weder an diesem 9. Oktober noch an irgendeinem anderen Tag lässt man Menschen wie Aftax Ibrahim hier vergessen, welcher Herkunft sie sind.

Sowohl Aftax Ibrahim als auch İsmet Tekin haben gegen das Urteil Revision eingelegt. In einem Interview führt Aftax Ibrahim aus: »Ich möchte, dass das Gericht und die Öffentlichkeit verstehen, dass es ein rassistischer Angriff war, den ich erlebt habe. Das muss öffentlich geklärt werden und es müssen Konsequenzen daraus folgen.« Dass die Revision der beiden Nebenkläger nun ohne jegliche Begründung durch den Bundesgerichtshof verworfen wurde, ist nicht nur für Aftax Ibrahim und İsmet Tekin, sondern auch für viele der anderen Überlebenden und Nebenkläger*innen ein schwerer Schlag. Der unendliche Kampf gegen Rassismus, Rassist*innen und Gewalt und die Hoffnung auf gesellschaftliche und juristische Anerkennung, Mut und Solidarität geht für sie dennoch weiter.

Ilil Friedman

wurde 1989 in Israel geboren. Seit 2002 lebt sie in Berlin, wo sie an der Freien Universität Berlin Rechtswissenschaften studierte. Seit 2018 arbeitet sie als Rechtsanwältin in Berlin-Kreuzberg und vertritt Menschen insbesondere in strafrechtlichen und migrationsrechtlichen Angelegenheiten. Im Halle-Prozess vertrat sie den Nebenkläger Aftax Ibrahim.

Das Buch

Dieser Artikel ist ein Vorabdruck aus dem jetzt im November erscheinenden Sammelband »Der Halle-Prozess: Hintergründe und Perspektiven« aus dem Verlag Spector Books Leipzig. Christina Brinkmann, Nils Krüger, Matthias Görlich und Jakob Schreiter geben ihn als Folgeband zu den im letzten Jahr erschienenen Protokollen des Gerichtsverfahrens heraus. Die Fundstellen für die Zitate sind im Originaltext im Buch enthalten. Christina Brinkmann, Nils Krüger, Matthias Görlich, Jakob Schreiter (Herausgebende): Der Halle-Prozess: Hintergründe und Perspektiven, 350 Seiten, 26 Euro.