analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 678 | International

Grenzstudien

Frontex ist zum Partner der Hochschulen geworden. Die Festung Europa wird dadurch smarter, aber nicht humaner

Von The Border Starts Here

Suchen jetzt auch den Kontakt zu Professor*innen: Mitarbeiter des europäischen Abschieberegimes in Griechenland. Foto: Rock Cohen/Flickr, CC BY-SA 2.0

Von Nordafrika bis Europa haben am 18. Dezember 2021 Menschen die Abschaffung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex gefordert. Das breite Bündnis Abolish Frontex ist dabei mit der Kritik an der EU-Agentur nicht allein. Weil Frontex mit der Polytechnischen Universität Turin  kooperiert, äußerten italienische Akademiker*innen und Aktivist*innen scharfe Kritik. Explizite Bilder von Gewalt an den EU-Grenzen dringen zwar eher selten  an die Öffentlichkeit. Dennoch assoziieren die meisten Menschen mit Frontex vermutlich keine humanitäre Organisation, sondern zu Recht eine sich aufrüstende Grenzpolizei. Umso verwunderlicher scheint der Entschluss der Turiner Universität, sich auf eine weitreichende Kooperation mit Frontex einzulassen. Für vier Millionen Euro produziert die renommierte Forschungseinrichtung für Frontex Karten in einem außergewöhnlich großen Maßstab – 50 Meter in der Realität entsprechen einem Zentimeter auf der Karte. Sie soll einzelne Gebäude und kleine Straßen beinhalten und der Grenzagentur eine noch genauere Kontrolle und Überwachung der EU-Grenzen ermöglichen.

Universitäten werden dem Ideal des kritischen und unabhängigen Forschens und Denkens zweifelsfrei nicht immer gerecht. Dennoch ist die direkte Zusammenarbeit einer Universität mit Frontex, einer Organisation mit einer langen Liste von vorgeworfenen und nachgewiesenen Verstößen gegen internationales Recht, ein denkwürdiger Schritt. Grundsätzlich sind Kooperationen von Frontex mit Universitäten nicht neu. So sind in den Frontex-Files, einem Online-Register über die politischen und ökonomischen Verbindungen der Organisation, Treffen der Grenzschutzagentur mit Universitäten in ganz Europa aufgelistet, darunter mehrere deutsche Universitäten.

Eine Erzählung von der Grenze

Frontex ist in erster Linie eine Grenzschutzagentur. Das bedeutet, dass ihre eigentliche Arbeit die »Sicherung der Grenze« ist, was praktisch bedeutet, dass sie die Bewegungsfreiheit bestimmter Personen und Waren einschränkt, während sie diese für andere ermöglicht. Aber Frontex ist weit mehr als das Zusammenspiel bereits existierender nationaler Sicherheitskräfte. Die Agentur unterhält Kontakte zu politischen Entscheidungsträger*innen, Forscher*innen, privaten Unternehmen und mehr. Frontex produziert ein eigenes Framing der Grenze. In diesem sind illegalisierte Migrant*innen Täter*innen, solidarische Menschen Kriminelle, und Polizist*innen und Sicherheitstechnologie die Lösung. Das klingt überspitzt? Ayoubi Nadir droht eine Gefängnisstrafe von zehn Jahren, weil sein Sohn auf der Überfahrt im Mittelmeer ertrank. Unter dem Vorwurf der Unterstützung illegaler Migration wurde der italienische Bürgermeister Domenico Lucano zu 13 Jahren Haft verurteilt. Diese Täter*innen-Opfer-Umkehr liegt der EU und Frontex zugrunde, auf dieser basiert die Praxis des mörderischen Grenzregimes. Dieses zutiefst unmenschliche Verständnis von Menschen, Grenzen und Migration propagiert Frontex, nicht nur zunehmend in der akademischen Welt.

Neben der üblichen Öffentlichkeitsarbeit von Sicherheitsagenturen unterhält Frontex eine in ihrem Umfang ungewöhnlich große Forschungsabteilung. Sie veröffentlicht jährlich ihren »Risk Analysis Report«. Durch die Berichte zieht sich das Narrativ der Grenze als bedrohtes Objekt, obwohl zeitgleich an dieser Grenze Menschen sehenden Auges misshandelt und zurückgewiesen werden und/oder gar ertrinken. Zentrales Thema der Berichte ist die Auseinandersetzung mit Schmuggler*innenstrukturen sowie Menschen- und Drogentransporten. Auch werden Daten über die Reiserouten von illegalisierten Migrant*innen gesammelt und Strategien zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit vorgestellt und bewertet. Trotz Frontex‘ Anspruch, die Sicherheit an der Grenze zu gewährleisten, werden die am meisten gefährdeten Gruppen – illegalisierte Migrant*innen – von der Grenzagentur nicht als zu schützende Gruppe erwähnt. Frontex hat keine Aufzeichnungen über die Todesrate von Flüchtenden. Die Daten sollen verschleiern, dass die Praxis von Frontex selbst zu systematischen Verstößen gegen das internationale Recht führt.

Diese diskursive Macht über die Grenze geht Hand in Hand mit dem zentralen Auftrag von Frontex – der Kontrolle der Grenze. Die Agentur trainiert und entsendet Grenzpolizist*innen und realisiert damit die Militarisierung von Grenzen und die Kriminalisierung von Flucht. Gleichzeitig zeichnet sie durch ihre Öffentlichkeitsarbeit, Analysen und Berichte ein Bild, nach welchem hochgerüstete EU-Außengrenzen und der gewaltsame »Schutz« derselben normal oder sogar notwendig seien.

Universitäten, Grenzen und Militarisierung

Sicherheitsfirmen entwickeln ihre eigenen Produkte, profitieren aber von staatlich finanzierter Forschung im Bereich der Grenzsicherung. Hochschulabsolvent*innen, die in diesem Bereich ausgebildet wurden, sind potenzielle Arbeitskräfte für die kapitalistische Militär- und Sicherheitsindustrie und für nicht-staatliche Akteur*innen im sogenannten »Migrationsmanagement«. Frontex hat bereits 2017 den Masterstudiengang »Strategic Border Management« eingeführt, den die Agentur in Zusammenarbeit mit europäischen Universitäten entwickelt hat. Die beteiligten Universitäten sind eine Mischung aus militärnahen und öffentlichen Einrichtungen. Das neoliberale Paradigma der Universität als Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt erfüllt in diesem Sinne auch die Ansprüche der Militärindustrie. Der Erfolg von Frontex liegt in der Verankerung eines Grenzverständnisses als Ort der Kontrolle und Macht. Hochschulen entwickeln sich damit zu Ausbildungsstätten für Fachkräfte im Bereich der Beschränkung von Bewegungsfreiheit. Damit tragen sie zur Normalisierung von Frontex´ rechtsmissbräuchlichem Verhalten und der allgemeinen Akzeptanz militarisierter Grenzen bei.

Wie in zwei kürzlich erschienenen Veröffentlichungen des Guardian dokumentiert, hat Frontex im Vergleich zu den Vorjahren mehr Menschen abgeschoben, auch weil mehr Nationalstaaten die EU-Agentur dazu angefragt hatten. Das Grenzregime beruht dabei auf einer umfassenden Militarisierung und Technologisierung. Von Drohnen und Wärmebildkameras bis hin zum Einsatz von künstlicher Intelligenz: Milliarden von Euro werden für die Einschränkung der Bewegungsfreiheit ausgegeben. Dies geschieht sowohl im nationalen Rahmen als auch durch Frontex auf EU-Ebene. Der ständige Anstieg des Budgets von Frontex auf 543 Millionen Euro im Jahr 2021 spiegelt die zunehmenden Investitionen in das Grenzregime wider. Zum Vergleich: Fünf Jahre zuvor betrug das Budget mit 254 Millionen Euro noch nicht einmal die Hälfte.

Aber auch in den humanitären Bereichen des Grenzkomplexes verdienen private Unternehmen Millionen mit dem Verkauf von Sicherheitstechnik. In Lagern werden technologische Lösungen wie Iris-Scans und Kameraüberwachung zur Kontrolle und Verwaltung von Geflüchteten eingesetzt. Andererseits soll die Technologie denjenigen Personen und Gütern einen reibungslosen Grenzübertritt ermöglichen, die als legal deklariert werden. »Intelligenten Grenzen« sollen hocheffizient illegalisierte Migrant*innen und Waren raushalten, während sie den legalisierten Reisenden und Waren eine schnelle Durchreise ermöglichen. Die neuen Techniken sorgen so für die Aufrechterhaltung globaler Ungleichheit und sichern gleichzeitig eine immer effizientere kapitalistische Produktion im Welthandel entlang der Grenzen.

Knotenpunkt Frontex

Die Finanzierung des Grenzregimes ist in einer Dreiecksbeziehung zwischen Frontex, der EU und dem militärisch-industriellen Komplex verankert: Über das Frontex-Budget entscheiden die EU-Institutionen, darunter die Kommission, das Parlament und der Minister*innenrat. Der militärisch-industrielle Komplex setzt sich direkt und über Beratungsgremien bei den EU-Institutionen für eine Erhöhung des Budgets und den Einsatz seiner Produkte ein. Frontex wiederum profitiert durch erhöhte Budgets von dieser Lobbyarbeit und kauft im Gegenzug Waffen und Sicherheitstechnologie vom militärisch-industriellen Komplex. Die Grenze und das »Risiko« der Migration sind in diesem Kreislauf gegenseitiger Interessen zu einem Markt geworden, auf dem Millionen von Euro europäischer Steuergelder für das gewaltsame Grenzregime ausgegeben werden.

Die Verbindung von Frontex mit Universitäten erweitert diese Dreiecksbeziehung um eine weitere Ebene. Die jüngsten Entwicklungen in Italien, wo Hochschulen von Frontex unter Vertrag genommen werden, sind ein nächster Schritt in Richtung der Auslagerung der Arbeit der Agentur in den öffentlichen Sektor. Die nächste Affäre der Agentur mit den Universitäten gefährdet diese vermeintlich kritischen Orte – statt Grenzregime und deren Ungerechtigkeit zu hinterfragen, werden Menschen für eine Institution ausgebildet, die für Menschenrechtsverletzungen bekannt ist.

Neue Sicherheitstechnologien sind gleichzeitig ein Resultat des deklarierten Sicherheitsbedürfnisses und treiben die Militarisierung der Grenze weiter voran. Der militärisch-industrielle Komplex ist an die Notwendigkeit gebunden, seine Produkte zu verkaufen, einzusetzen und zu testen. Die Grenze als solche wird zum Markt, auf dem private Unternehmen ihre Gewinne machen.  David Harvey wies auf die im neoliberalen Kapitalismus aufkommende Vorstellung hin, nach der technologische Lösungen unsere Probleme lösen würden – der »technological fix«. Die Militarisierung der Grenze folgt einer ähnlichen Logik, in der das Problem der Grenze, ein angeblicher Mangel an Sicherheit, durch eine technologische Lösung – Militärtechnologie – behoben werden kann. Dabei wird jedoch ein zugrundeliegender Widerspruch ignoriert, nämlich der, dass die Militarisierung der Grenze als solche die Quelle und nicht die Lösung für Unsicherheit, Gewalt und Tod an der Grenze ist.

Die Grenze als solche wird zum Markt, auf dem private Unternehmen ihre Gewinne machen.

Viele Aktivist*innen und zivilgesellschaftliche Gruppen beteiligen sich an der Kampagne Abolish Frontex. Vor dem Hintergrund der Forderung, die Agentur abzuschaffen, stellt sich die Frage, ob Frontex schlechter ist als die bloße Summe der nationalen Grenzsicherungen. Wenn Frontex sogar die Grenzpolitik Ungarns verurteilt und ihre Arbeit in diesem Land aufgrund von Menschenrechtsverletzungen seitens der Regierung einstellt, könnte man auch argumentieren, dass eine Reform von Frontex das kleinere Übel wäre. So eine vermeintlich realpolitische Argumentation würde aber keine humaneren Grenzen schaffen. Ein Grenzregime, das Menschen als Bedrohung sieht, kann nicht reformiert werden. Natürlich würde die Abschaffung von Frontex weder die Existenz der EU-Grenzen beenden, noch würde sie die Profiteur*innen einer zunehmenden Militarisierung des Grenzregimes stoppen. Frontex ist jedoch mehr als eine einfache Grenzagentur. Die Abschaffung der Agentur könnte ein erster Schritt sein, die Gewinnspirale durch das gewaltvolle EU-Grenzregime zu unterbrechen.

The Border Starts Here

ist ein unabhängiges Netzwerk von Individuen, Aktivist*innen und Organisationen, das die Gewalt an der EU-Grenze dort sichtbar machen möchte, wo diese politisch und ökonomisch verwurzelt ist – innerhalb der EU.