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Expansion auf Kosten der Profite

Die Essensplattform Delivery Hero steigt in den Dax auf – der Druck auf die Fahrer*innen dürfte zunehmen

Von Janis Ewen

Proteste von Essenskurrieren in Berlin
Unsicher, schlecht bezahlt und digital vermittelt: Protestaktion von Ridern gegen schlechte Arbeitsbedingungen in Berlin. Foto: ak

Ein börsennotiertes Unternehmen aus Berlin ersetzt den betrügerischen Zahlungsdienstleister Wirecard im Deutschen Aktienindex (Dax). Damit gilt Delivery Hero, das in mehr als 40 Ländern Online-Plattformen für Essenslieferdienste betreibt und 25.000 Beschäftigte hat, als eines der 30 größten und liquidesten Unternehmen auf dem hiesigen Aktienmarkt. An der Börse wird die Essensplattform mit rund 19 Milliarden Euro bewertet, doppelt so viel wie noch vor zwölf Monaten. Bemerkenswert dabei ist, dass das Unternehmen in Deutschland keine Dienstleistungen mehr anbietet. Mit dem Verkauf von Foodora, Lieferheld und Pizza.de an das niederländische Unternehmen Takeaway Just Eat – das mittlerweile mit Lieferando den deutschen Markt beherrscht – hat sich Delivery Hero aus dem Deutschland-Geschäft verabschiedet.

Warum der Markt hierzulande vollständig der Konkurrenz überlassen wurde, ist nicht bekannt. Es heißt, das Unternehmen wolle sich auf Asien, Nordafrika und den Nahen Osten konzentrieren. Welche Rolle die vermehrten Arbeitskämpfe der Rider (wie die Essenskurier*innen genannt werden) und die Gründung von Betriebsräten in mehreren Städten spielten, lässt sich nur mutmaßen. Bereits 2018 hatte sich Delivery Hero mit Foodora vom australischen Markt zurückgezogen, nachdem es dort zu Arbeitskämpfen und drohenden Gerichtsverfahren gegen die Scheinselbstständigkeit der Fahrer*innen gekommen war. Foodora erklärte damals zum Rückzug nur, sich auf Märkte mit »besseren Chancen auf Wachstum« fokussieren zu wollen.

Selbstausbeuterische Tendenzen

Das Geschäftsmodell von Delivery Hero basiert im Kern auf ihren digitalen Plattformen. Der sonstige Anteil an fixem Kapital ist gering. Die lokalen Anbieter von Delivery Hero betreiben zum einen Webseiten im Internet, auf denen verschiedene Restaurants gebündelt werden und zum anderen werden Fahrer*innen beschäftigt, die für Restaurants ohne eigenen Lieferservice das Essen ausliefern. Für die Vermittlung verlangen sie von den Restaurants eine Provision und oft eine geringe Gebühr für die Lieferung von den bestellenden Kund*innen. Die Rider sind häufig soloselbstständig oder – wie zuletzt bei Foodora in Deutschland – geringfügig beschäftigt und verdienen knapp über dem Mindestlohn. Ihre Arbeitsmittel sind ihre eigenen Fahrräder oder Motorroller sowie ihre Smartphones. Die Plattformen stellt ihnen mehrheitlich nur die App, welche die Arbeitsabläufe steuert und überwacht. Der Algorithmus erkennt den Standort der jeweiligen Fahrer*innen und übermittelt den Nächstgelegenen das Restaurant, bei dem sie das Essen abholen müssen und im Anschluss erfahren sie die Zieladresse der Kund*innen.

Mit dem Aufstieg der Digitalwirtschaft gab es zugleich einen Boom an einfachen Dienstleistungen.

In der Öffentlichkeit wird die Digitalwirtschaft oft als kreative Branche mit modernen – wenn auch manchmal (selbst)ausbeuterischen – Arbeitsverhältnissen gesehen. In soziologischen Debatten gilt sie vielfach als Beleg für den Aufstieg der Wissensgesellschaft, in der kognitive Arbeiten im Mittelpunkt stehen. Dass sich mit ihr aber zugleich ein regelrechter Boom an einfachen Dienstleistungen vollzogen hat, wird häufig ausgeblendet. Zahlreiche niedrig qualifizierte Jobs – unsicher, schlecht bezahlt und oft digital vermittelt – gewährleisten die soziale Reproduktion der aufstrebenden »neuen Mittelklassen«. Prekäre Beschäftigte bedienen, reparieren, putzen, pflegen und liefern da, wo anderen aufgrund der eigenen Erwerbsarbeit die Zeit fehlt.

Undurchsichtige Verhältnisse

Im Fall der Plattformarbeit wird dabei das Verhältnis von Kapital und Arbeit äußerst undurchsichtig – insbesondere dort, wo Soloselbstständige arbeiten. Denn die Plattformunternehmen ziehen sich darauf zurück, nur zwischen Kund*innen und Arbeitskräften zu vermitteln, um selber keine Verantwortung für die Arbeitsbedingungen übernehmen zu müssen. Ihre Aufgabe sehen sie eher im Bündeln und Verarbeiten von Informationen, Daten und Wissen, die sie für die Weiterentwicklung des Algorithmus der Plattform und App verwenden und ihnen bedeutende Marktvorteile versprechen.

Denn die beliebtesten Plattformen profitieren vom sogenannten Netzwerkeffekt: Der Anbieter mit der höchsten Anzahl an Kund*innen verschafft sich einen Vorteil, weil die Nutzer*innen der angebotenen Dienstleistungen davon ausgehen können, dort auch weiterhin das größte Angebot zu finden. Das verstärkt die Tendenz zur Monopolbildung innerhalb der Plattformökonomie, was die aggressiven Wettbewerbsstrategien in der Branche erklärt. Deshalb setzte auch Delivery Hero auf maximale Expansion und weniger auf Rentabilität, um zukünftig lokale Märkte dominieren zu können und nicht frühzeitig verdrängt zu werden.

Für viele Investoren scheint die Plattformarbeit ein Modell mit Zukunft zu sein. Vor allem seit der Wirtschafts- und Finanzkrise ließ sich beobachten, wie sogenanntes Risikokapital in die Digitalwirtschaft floss. Gefragt waren und sind Anlagemöglichkeiten mit hohen Renditen, was sich vor allem für Tech-Start-ups ausgezahlt hat, in die große Mengen überschüssiges Kapital investiert wurde.

Der Aufstieg Delivery Heros in den Dax kann als Anzeichen dafür verstanden werden, dass es dem Unternehmen derzeit gut gelingt, das anlagesuchende Kapital auf den Finanzmärkten einzusammeln. Sollte das Geschäftsmodell aber in absehbarer Zeit nicht profitabel werden, droht im Zweifel ein ähnliches Schicksal wie bei Wirecard.

Für die Rider und anderen Beschäftigten dürfte daher der Druck auf ihre Arbeitsbedingungen eher zu- als abnehmen. Vieles dürfte davon abhängen, wie sich ihre Kämpfe am Arbeitsplatz entwickeln und ob es gelingt, dem Unternehmen gewisse Mindeststandards abzuringen. Wenn sie erfolgreich sind, stellen sie womöglich sogar das gesamte Arbeitsregime der einfachen Dienstleistungen im digitalen Kapitalismus in Frage.

Janis Ewen

arbeitet als Soziologe, lebt in Hamburg und forscht zu kollektiver Handlungsfähigkeit in der Plattformökonomie.