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Gewissen außer Kraft

Der Bundesgerichtshof hat beschlossen, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ausgehebelt werden könnte – gerade dann, wenn es darauf ankommt

Von Wilhelm Achelpöhler

Neben den Kriegsdienstverweigerern gab es einst auch Totalverweigerer, die nicht nur den Waffendienst, sondern die Wehrpflicht insgesamt ablehnten und ihre Abschaffung forderten. Hier Vertreter der Bewegung 1990, im Hintergrund Renate Künast (heute Grüne). Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0117-025 / CC-BY-SA 3.0

Das Recht, den »Kriegsdienst mit der Waffe« zu verweigern, ist durch Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes ohne jede Einschränkung verbürgt. Nun könnte es abgeschafft werden, wenn es darauf ankommt: in Kriegszeiten. So jedenfalls die Ansicht des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs in einem Beschluss vom 16. Januar 2025. Die Richter*innen, sonst meist mit Straßenverkehrsrecht beschäftigt, folgten damit dem Oberlandesgericht Dresden und einem Antrag des Generalbundesanwalts und leisteten zugleich einen höchstrichterlichen Beitrag zur aktuellen Debatte um Wehrpflicht und Kriegstüchtigkeit.

Das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung war von Anfang an umstritten, es galt seit jeher als das »unbequeme Grundrecht«. Weltweit erstmalig wurde 1949 in Deutschland mit Artikel 4 Abs. 3 Grundgesetz ein Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung in der Verfassung festgeschrieben. Vier Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges war dies eine Konsequenz aus dem Umstand, dass Tausende deutsche Soldaten wegen Verweigerung des Kriegsdienstes während der NS-Herrschaft hingerichtet wurden. Von Anfang an war das Grundrecht freilich beschränkt auf prinzipielle Pazifisten, die aus Gewissensgründen den Dienst verweigern. »Drückeberger« sollten sich indessen nicht darauf berufen können, politische Erwägungen, wie sie etwa Ole Nymoen in seinem Buch »Warum ich nicht für meinen Staat kämpfen will« zusammengestellt hat, sind für die Inanspruchnahme des Artikel 4 Abs. 3 irrelevant.

Diese Gewissensentscheidung bedurfte zunächst der behördlichen Feststellung durch eine mündliche Verhandlung vor Prüfungsausschüssen und Prüfungskammern, die Beweislast lag beim Kriegsdienstverweigerer. Als die Zahl der Verweigerer nach 1968 sprunghaft anstieg und rund 100.000 junge Männer eines Jahrgangs verweigerten, versuchte die sozialliberale Koalition, das Verfahren zu vereinfachen; eine Erklärung der Kriegsdienstverweigerung »durch Postkarte« sollte ausreichen. Diese Reform wurde durch das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 13. April 1978 gekippt, weil die »Wehrgerechtigkeit« erfordere, dass als Kriegsdienstverweigerer (kurz: KDVler) nur anerkannt wird, wer wirklich aus Gewissensgründen verweigert. Das Anerkennungsverfahren dürfe es den KDVlern nicht zu leicht machen. Tatsächlich spielte wohl die Sorge der Verfassungsrichter um Funktionsfähigkeit der Bundeswehr eine Rolle: »Ausgangspunkt aller Überlegungen« müsse nicht zuletzt »die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr sein«, wie Bundesverfassungsrichter Joachim Rottmann kurz vor Urteilsverkündung den Rechtsanwälten des Bundesbeauftragten für den Zivildienst am Telefon vertraulich erklärte.

So streng das Bundesverfassungsgericht beim Anerkennungsverfahren war, um das damals heiß gestritten wurde, das Gericht gewährleistete einen absoluten Schutz des Grundrechts im Kriegsfall, den sich seinerzeit niemand vorstellen konnte. Denn das Bundesverfassungsgericht stellte zugleich fest, dass »das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen« »der verfassungsrechtlich verankerten Pflicht, sich an der bewaffneten Landesverteidigung und damit insoweit an der Sicherung der staatlichen Existenz zu beteiligen, eine unüberwindliche Schranke entgegen« setzt, wobei Landesverteidigung im Sinne des Grundgesetzes ohnehin nur eine Verteidigung gegen völkerrechtswidrige Angriffe meint. Der Gesetzgeber könne allein das Anerkennungsverfahren regeln, nicht aber das Grundrecht »in seinem sachlichen Gehalt einschränken«.

Folgenreiche Präzedenzentscheidung

Ganz anders nun der Bundesgerichtshof (BGH): Zum Anlass der Entscheidung nahmen die BGH-Richter*innen das Auslieferungsverfahren eines Ukrainers, der wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt in der Ukraine vor Gericht gestellt werden soll. Er beruft sich auf sein Recht auf Kriegsdienstverweigerung, das in der Ukraine nicht gewährleistet ist. Zu prüfen hatte der BGH, ob die Auslieferung unzulässig ist, weil sie gegen fundamentale Prinzipien des Grundgesetzes verstößt, also jenen Prinzipien, die auch durch eine Verfassungsänderung nicht aufgehoben werden können, Artikel 79 Abs. 3 GG.  Im Asylrecht oder im Ausländerrecht hat das Recht auf Kriegsdienstverweigerung diesen hohen Rang nicht. Stellt etwa ein US-Soldat in Deutschland einen Asylantrag, weil er den Kriegsdienst verweigern will, dann bleibt er damit erfolglos. Wehrdienst im Herkunftsland ist auch kein Abschiebehindernis.

Anders als 1978 wird aber wieder Krieg in Europa geführt und es geht auch hierzulande um die Kriegstüchtigkeit. Die BGH-Richter*innen urteilten nun, ein Kriegsdienstverweigerer könne an die Ukraine ausgeliefert werden, da »sein um Auslieferung ersuchendes Heimatland völkerrechtswidrig mit Waffengewalt angegriffen wird und ein Recht zur Kriegsdienstverweigerung deshalb nicht gewährleistet«. Denn: Eine solche Einschränkung des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung sei auch in Deutschland möglich. Sprich: Was den jungen Mann in der Ukraine erwartet, ist nichts anderes, was auch in Deutschland Kriegsdienstverweigerer im Kriegsfall womöglich zu erwarten haben, nämlich doch zum Kriegsdienst in der Armee eingezogen zu werden.

Aus Sicht der BGH-Richter*innen »erscheint es auch nach deutschem Verfassungsrecht nicht von vornherein undenkbar, dass Wehrpflichtige in außerordentlicher Lage (…) in letzter Konsequenz sogar gehindert sein könnten, den Kriegsdienst an der Waffe aus Gewissensgründen zu verweigern«. Es sei »ungeachtet des besonders hohen Rangs der in Art. 4 GG verbürgten Gewissensfreiheit« nicht undenkbar, dass »auch die deutsche verfassungsrechtliche Ordnung es gestatten oder sogar erfordern könnte, den Schutz des Kriegsdienstverweigerungsrechts in außerordentlicher Lage gegenüber anderen hochrangigen Verfassungswerten zurücktreten zu lassen«, wobei mit diesen Verfassungswerten »die Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Streitkräfte« gemeint sind. »Einschränkungen des Kriegsdienstverweigerungsrechts bis hin zu dessen Aussetzung in existenziellen Krisen des Staates« seien »prinzipiell nicht undenkbar«, erforderten auch keine Änderung des Grundgesetzes, da der Gesetzgeber nur die »verfassungsimmanenten Einschränkungen« des Grundrechts nachzeichne.
Die BGH-Richter*innen gehen also umgekehrt an die Sache heran, wie das Bundesverfassungsgericht 1978: Die umstrittene Frage, ob sich auch Nichtdeutsche auf das Grundrecht berufen können, ließen die Richter*innen außen vor, nur um dann festzustellen, dass im Kern von diesem Grundrecht genau dann nichts bleibt, wenn es darauf ankommt, im Kriegsfall.

Anmerkung:

Der Verein Connection e.V., der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Kriegsdienstverweigerer und Deserteure zu unterstützen, hat eine ausführliche Analyse der BGH-Entscheidung erstellt, die auch Fragen der Vereinbarkeit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention aufgreift, abrufbar unter de.connection-ev.org.

Wilhelm Achelpöhler

ist Friedensaktivist und Rechtsanwalt in Münster.