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Polizeireviere in Büchereien

In Kolumbien gehört Gewalt schon lange zur staatlichen Strategie der Kontrolle. In der Pandemie verschärft sich die Lage – aber auch der Protest

Von Alke Jenss

Polizei in Bogotá, 1. Mai 2008
Die Polizei in Kolumbien ist extrem gewalttätig und entsprechend verhasst. Nicht erst in jüngster Zeit mehren sich die Proteste. Hier wurden die Beamt*innen am 1. Mai 2008 in Bogotá mit einigen Farbbomben bedacht. Foto: Policía Nacional de los colombianos/Flickr , CC BY 2.0

Es ist ein schönes Bild: Aktivist*innen haben den ausgebrannten kleinen Polizeiposten von La Gaitana in Suba, Bogotá, in ein improvisiertes Kulturzentrum mit Bücherstand verwandelt und bemalt. Sie wollen damit die 18jährige Yulieth Ramirez ehren, die am 9. September 2020 von einer verirrten Polizeikugel getötet wurde.

Polizeigewalt ist in Kolumbien allgegenwärtig, aber Anfang September wurde ein besonders extremer und doch typischer Fall bekannt. Der Ingenieur Javier Ordóñez starb nach einer Kontrolle, bei der zwei Polizisten ihn wiederholt mit einem Taser attackierten. Seine Bitten, sie sollten aufhören, sind auf einem Video zu sehen. Sein Fall erinnert an George Floyd. Die kolumbianische Polizeigewalt richtet sich allerdings – anders als in den USA – in weit höherem Maße gegen jene, die die Polizei als staatskritisch oder links einschätzt.

Zwar stellte die Staatsanwaltschaft nach dem Tod von Ordóñez beide beteiligten Polizisten unter Arrest, doch auch auf die großen Proteste, die sich daraufhin in Bogotá und anderen Städten entwickelten, reagierte die Polizei mit exzessiver Gewalt. Mindestens 13 Menschen starben während der Demonstrationen am 9. und 10. September durch Polizeischüsse. Wie in Chile schienen Polizist*innen beim Einsatz von Gummigeschossen bewusst auf die Köpfe der Protestierenden zu zielen. Mehrere Menschen verloren – ganz oder teilweise – ihr Augenlicht.

Die polizeilichen Gewaltexzesse im Kontext der Demonstrationen brachten das Fass in Kolumbien nun erneut zum Überlaufen und die anhaltenden Straßenproteste in Bogotá die Regierung Duque in Bedrängnis. Denn diese steht in direkter Verantwortung für das Vorgehen der Beamten: die (nationale) Polizei ist dem Verteidigungsministerium unterstellt und militärische und polizeiliche Befehlsketten enden letztlich beide bei Verteidigungsminister Carlos Holmes Trujillo. Dabei gibt es weder offizielle Zahlen zu Anzeigen wegen Polizeigewalt noch Angaben dazu, welche Maßnahmen bei solchen Anzeigen ergriffen werden. Die Ombudsstelle für Menschenrechte hat die Staatsanwaltschaft diesbezüglich nun um Auskunft gebeten. Ob das etwas an der systematischen Unsichtbarmachung von Polizeigewalt ändern wird, ist fraglich.

Extreme Ungleichheit

Im großen informellen Sektor sind die Menschen besonders von einem kleinen täglichen Einkommen abhängig, das während des Lockdowns wegbrach. Venezolanische Migrant*innen versuchten teilweise zu Fuß wieder nach Venezuela zurückzukehren, weil der informelle Sektor in Bogotá praktisch lahmgelegt war. Dazu schnellte die offizielle Arbeitslosenstatistik auf 23,5 Prozent in die Höhe. Zwar legte die Regierung im April ein Programm von Transferzahlungen für Haushalte auf, die die klassischen Hilfsprogramme nicht erreichen (Ingreso Solidario); die Zahlung von umgerechnet 106 Euro in drei Raten setzt aber die Eröffnung eines digitalen Accounts oder Kontos voraus, ist also zugleich ein Programm, Menschen in den Bankenmarkt zu integrieren.

Nicht nur die extreme Ungleichheit trieb die Menschen in Kolumbien schon vor der Pandemie auf die Straße, sondern auch der gewaltvolle Alltag in dem lateinamerikanischen Land.

Die Proteste richten sich seitdem auch, aber nicht nur gegen die massive Polizeigewalt. Tatsächlich scheint es fast, als seien die Mobilisierungen von 2019, bei denen ähnlich wie in Chile oder Bolivien auch in Kolumbien Hunderttausende gegen Armut, Korruption und politische Gewalt auf die Straße gegangen waren, nur von der Pandemie unterbrochen – und lebten nun, mit weiteren Lockerungen nach einem langen Lockdown, wieder auf. Denn geändert hat sich an den Forderungen nichts. Und die Pandemie hat die Gründe für breiten gesellschaftlichen Protest nur verschärft.

Aber nicht nur die extreme Ungleichheit trieb die Menschen in Kolumbien schon vor der Pandemie auf die Straße, sondern auch der gewaltvolle Alltag in dem lateinamerikanischen Land. Der Kontext ist allerdings komplex, und die Gewalt beschränkt sich keineswegs auf die Polizei. Kolumbiens ländliche Regionen erleben seit Mai eine Welle an Massakern, wie es sie seit Jahren nicht gegeben hat.

Selektive Morde

Die Liste von Gewalttaten, die staatliche Kräfte tolerieren oder zumindest nicht nachhaltig untersuchen, scheint endlos. Seit dem Regierungswechsel 2018, also unter der neuen rechtsgerichteten Regierung Iván Duques, der als politischer Ziehsohn Álvaro Uribes gilt, haben Massaker an der Zivilbevölkerung um 30 Prozent zugenommen. In mindestens 36 Fällen wurden – vor allem in den westlichen Regionen Antioquia und Cauca – mindestens drei Menschen auf einmal ermordet. Die Täter*innen sind, anders als früher, heute häufig Unbekannte. Augenzeug*innen beschreiben sie meist als zivil Gekleidete mit Schnellfeuerwaffen und großen Fahrzeugen.

Selektive Morde (1) treffen scheinbar völlig unbeteiligte Jugendliche, aber auch die Zahl ermordeter regierungskritischer Aktivist*innen stieg im Jahr 2020 dramatisch an. Häufig trifft es Gemeindepersönlichkeiten, die sich für den 2016 abgeschlossenen Friedensvertrag zwischen Staat und FARC-Guerilla eingesetzt hatten. Sie sind bekannte Gesichter. Der strenge Lockdown ab März, der in einigen Regionen durch bewaffnete Gruppen durchgesetzt wurde, sorgte nicht nur für Isolation, sondern auch für wegfallenden Schutz, der sonst durch Gemeinschaft und häufige Ortswechsel hergestellt wurde. Auch ehemalige Mitglieder der FARC-Guerilla, die 2016 die Waffen abgegeben haben, werden regelmäßig umgebracht.

Das Militär ist ebenfalls für massive Menschenrechtsverstöße, Gewaltakte und politische Morde bekannt. Häufig versanden diese Fälle vor Militärgerichten. Wenn sie nicht selbst beteiligt sind, setzen staatliche Stellen dem Bedrohungsszenario kaum etwas entgegen. Massaker werden entweder als »Kollektivmorde« entpolitisiert (Präsident Duque) oder als »Kämpfe zwischen Drogenhändlern« negiert – das sagte ausgerechnet der Hochkommissar für den Frieden, Miguel Ceballos.

Wirtschaftliche Interessen

Diese Gewalt bedeutet nicht nur soziale Kontrolle durch mächtige, meist private Akteure, sie ist auch nicht von wirtschaftlichen Interessen trennbar: Gewalt schließt Wachstum nicht aus und sie findet in Kolumbien einmal mehr dort statt, wo Investor*innen Gewinne erwarten, wo strategische Korridore für die Agrarindustrieentwicklung geplant sind oder wo keine Einigkeit über die Landnutzung herrscht; wenn also beispielsweise indigene Gemeinden Land für sich beanspruchen, für das ein Investitionsinteresse besteht. In El Tambo, Cauca, beispielsweise, werben Unternehmer*innen um Lizenzen für den Kohleabbau. Dort wurden am 21. August sechs Menschen getötet. Wo staatliche Stellen Kokaflächen durch das Besprühen aus der Luft reduzieren wollen, lässt sich zudem vielfach eine mal direkte, mal indirekte Verantwortung von Militärs an Morden belegen.

Gewalt schließt Wachstum nicht aus und sie findet in Kolumbien einmal mehr dort statt, wo Investor*innen Gewinne erwarten

Und: Spätestens seit 2017 gibt es in Teilen des Landes wieder verstärkt Indizien der Zusammenarbeit zwischen Militärs und Paramilitärs. Eine dieser kriminellen paramilitärischen Gruppen, die Autodefensas Gaitanistas de Colombia (AGC), tritt derzeit vermehrt in Erscheinung. In einer offenbar konzertierten Aktion sah man am Morgen des 2. Oktober in Orten im gesamten Nordwesten ihr Kürzel auf Hauswänden und Mauern gesprüht. In einem Pamphlet äußerte die Gruppe ihre »Ablehnung der Gewaltanwendung durch die Polizei« bei den aktuellen Demonstrationen. Sie gilt selbst als ausgesprochen gewalttätig (Morde, Erpressung und Landaneignung gehen ähnlich wie bei den früheren Paramilitärs auf ihr Konto), versucht sich inzwischen aber häufig sozial zu geben.

Dass Expräsident Álvaro Uribe bis Mitte Oktober auf seinem Landgut unter Hausarrest stand – Uribe war in einem von ihm selbst gegen den linken Abgeordneten Iván Cepeda Castro angestrengten Rechtsstreit offenbar in die Manipulation von Zeug*innen verwickelt -, interpretieren einige als zusätzlichen Gewaltfaktor. Denn Uribe steht für eine ultrarechte, mit Paramilitärs verbandelte und häufig ländliche Elite, die sich mittels paramilitärischer Gewalt massiv Land angeeignet hat. Mit Uribes Festsetzung durch das Oberste Gericht, schon lange sein Gegenspieler innerhalb des Staates, droht diesen Kräften ein Machtverlust. Sie reagieren auf ein mögliches Ende der Straflosigkeit und den drohenden Privilegienverlust mit weiterer Gewalt.

Generell ist das Erstarken neuer bewaffneter Gruppen in umkämpften Gebieten, die häufig eine strategische Bedeutung für den Drogenhandel oder illegalen Bergbau haben, auch eine Folge des Rückzugs der FARC. Aber auch das Wirtschaftsmodell befeuert genau diese Gruppen. Das Land setzt immer noch auf den Export fossiler Brennstoffe wie Öl und Kohle, den Abbau von Gold und immer stärker auf den Anbau agrarindustrieller Produkte wie Ölpalmen, Bananen oder Avocados. Die Regulation und Begrenzung der Macht von Wirtschaftsakteuren, die sich zwischen Legalität und Illegalität bewegen, ist schlicht nicht Priorität.

Neue Konfliktlinien, neue Proteste

Für die wirtschaftliche »Reaktivierung« nach der Pandemie sollen private Investitionen in Infrastrukturprojekte wie Häfen und Schnellstraßen Kolumbien nun weiter zur Logistikplattform zwischen Atlantik und Pazifik ausbauen. In diesem Zusammenhang zeichnet sich seit einigen Jahren ein neues Spannungsfeld ab: Neben Menschen, die Land in kleinbäuerlicher und indigener Hand vor Großprojekten verteidigen wollen, werden immer häufiger Umwelt- und Klimaaktivist*innen Ziel von Gewalt. Die kolumbianische Umweltbewegung ist sehr aktiv, denn die Auswirkungen des extrem klimaschädlichen fossilen und agrarindustriellen Modells sind seit Jahren spür- und sichtbar – etwa in Gestalt der Mondlandschaften des Bergbaus, durch die Störung von Ökosystemen durch Großstaudämme, Überschwemmungen oder verendete Tiere nach Trockenphasen in Teilen des Landes.

In diesen Zusammenhang der langjährigen und wieder wachsenden Proteste gegen ein unhaltbares Wirtschaftsmodell können wir auch die aktuelle indigene Mobilisierung zur »Minga« – einem landesweiten Protestmarsch auf Bogotá – und die Proteste gegen Polizeigewalt stellen. Während die systematische Gewalt seit langem Versuche der Veränderung blockiert, lassen sich junge Aktivist*innen weder von ihr noch von der Pandemie vom Protest abhalten.

Kolumbien ist momentan das Land in Lateinamerika, in dem die Arbeit für eine sozial-ökologische Transformation und gegen Polizeigewalt am lebensgefährlichsten ist. Dennoch nimmt die Mobilisierung für neue, emanzipatorische Verhältnisse eher zu, und kreativer Protest verwandelt Polizeistationen in Bibliotheken.

Alke Jenss

forscht am Arnold-Bergstraesser-Institut Freiburg zu den Themen Autoritarismus und Austerität in der Stadt sowie transregionalen Infrastrukturprojekten in Lateinamerika. Sie hat sich besonders mit staatlicher Gewalt in Kolumbien und Mexiko beschäftigt.

Anmerkung:
1) Der Begriff der »selektiven Morde« beschreibt den Umstand, dass hier gezielt Aktivist*innen ausgewählt werden und den Taten entsprechend eine politische Zielsetzung zugrunde liegt.