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Demonstrationen und drohende Vertreibung

Der Waffenstillstand in Gaza ist gescheitert – dagegen regt sich Protest unter Palästinenser*innen und Israelis

Von Sabine Kebir

Eine Gruppe Menschen, einer wird auf Schulter getragen und skandiert etwas, dahinter aufgetürmte Trümmer.
Zwischen Trümmern brachten die Menschen ihre Wut auf die Straße: Protest in Beit Lahia, Gaza, Ende März. Foto: picture alliance/abaca/Habboub Ramez/ABACA

Die erste Stufe des noch von der Biden-Regierung vorgeschlagenen Friedensabkommens zwischen Israel und der Hamas, das einen umfangreichen Gefangenenaustausch ermöglicht hatte, lief am 1. März aus. Am selben Tag begann der Ramadan, den die Bewohner*innen des Gazastreifens, den Umständen entsprechend, einigermaßen würdig begehen konnten. Dennoch hielt der Waffenstillstand. Wie in muslimischen Ländern üblich, bot die zivile Verwaltung der Hamas auch hier für Bedürftige ein öffentliches Mahl an. In Videobildern sah man auf einer langen Straße zwischen Trümmerbergen eine sich bis ins Unendliche hinziehende Festtafel, an der tausende obdachlos gewordene Frauen, Kinder und Männer für das Fastenbrechen Platz genommen hatten.

Solche friedlichen Bilder waren bald Vergangenheit. Die israelische Regierung war nicht bereit, in die zweite Phase des Friedensplans einzutreten. Sie sah vor, dass im Gegenzug für die Freilassung aller Geiseln die Israel Defense Forces (IDF) komplett abziehen. Der von Donald Trump als Unterhändler gesandte Steve Witkoff unterbreitete einen revidierten Vorschlag. Gegen sofortige Übergabe aller 24 noch lebenden und etwa 30 toten Geiseln sollte der Waffenstillstand während des ganzen Ramadan und bis zum 20. April, dem Ende des jüdischen Pessachfestes, anhalten. Eine konkrete Friedensaussicht für den Gazastreifen war jedoch gestrichen. Die Freilassung der Geiseln ohne dauerhafte Gegenleistung, d.h. der Eröffnung einer politische Perspektive für die Lösung des Konflikts, lehnte die Hamas ab.

Erklärtes Ziel von Netanjahus Regierung ist es, Teile des Gazastreifens erneut dauerhaft zu besetzen.

Unter dem Vorwand, dass Hamas Hilfsgüter gestohlen habe und zur Finanzierung ihrer »Terrormaschine« nutze, ließ Benjamin Netanjahu den Grenzübergang zwischen Rafah und Ägypten für Hilfslieferungen wieder schließen. Dort stauten sich erneut die Lastkraftwagen und für die Gazaouis wurde der Fastenmonat zum Hungermonat.

Immer neue Bedingungen

Sollten die Geiseln nicht bald frei kommen, drohte Verteidigungsminister Israel Katz, dass die »Tore zu Gaza weiter geschlossen bleiben, die Tore zur Hölle aber geöffnet« würden. Auch sollte die Wasser- und Stromversorgung erneut eingestellt werden. Dass Hunger und Entzug von praktisch allen Lebensgrundlagen wieder als Waffe eingesetzt wurde, – was einen groben Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht darstellt –, rief lediglich verbale Proteste der UNO und vieler Staaten, einschließlich der Bundesrepublik, hervor. Für die Wiederaufnahme des Krieges standen weiterhin Waffenlieferungen aus den USA, aber auch aus Deutschland zur Verfügung. Weil damit auch das Leben der noch in der Hand der Hamas befindlichen Geiseln wieder in Gefahr geriet, blockierten am 2. März hunderte Israelis die Straße vor der Residenz von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Ein Plakat wandte sich auch an den amerikanischen Präsidenten: »Lieber Trump – mach’ dem Krieg ein Ende und rette die Geiseln! Sie dürfen nicht sterben!«

Um einen Alternativplan gegen Donald Trumps Idee, die Bevölkerung des Gazastreifens dauerhaft auszusiedeln und ihr Land in eine Riviera für die Reichen und Schönen dieser Erde zu verwandeln, auf den Tisch zu legen, trafen sich am 4. März in Kairo Vertreter der islamischen Welt. Sie konkretisierten Vorschläge für die Rekonstruktion und Verwaltung des Gazastreifens nach einem Friedensschluss: Eine vorwiegend aus Soldaten arabischer Länder bestehende internationale Truppe soll das Gebiet sichern, die Regierung der Hamas ablösen, in Zusammenarbeit mit Gazaouis eine Verwaltung einsetzen und den Wiederaufbau leiten. Diese Sicherheitsstruktur soll durch eine Reihe von Staaten kontrolliert werden, darunter die USA. Dass die arabischen Staaten seit Jahrzehnten auf die Gewalt gegen Palästinenser*innen nicht mehr mit kriegerischen Mitteln antworteten und das auch während des aktuellen Gazakriegs nicht taten, müsste Israel eigentlich als Chance für seine dauerhafte Existenzsicherung in der Region begreifen.

In deutschen Medien wurde nur andeutungsweise berichtet, dass Trump daraufhin seinen »Sonderbeauftragten für Geiselfragen« Adam Boehler zu direkten Verhandlungen mit der Hamas nach Doha schickte. Boehler hatte bereits die Verhandlungen der sogenannten Abraham-Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten geleitet. In amerikanischen und israelischen Medien verkündete er, dass die Verhandlungen gut gelaufen seien und die Hamas zur Rückgabe aller Geiseln und zu einem Abkommen bereit sei, das den arabischen Vorschlägen entsprach, einschließlich ihres Verzichts auf die Macht.

Die Erklärungen Boehlers sorgten bei den Angehörigen der Geiseln kurzzeitig für Hoffnung. Ihre Regierung aber reagierte erbost und setzte bei Trump durch, Boehler von seiner Funktion zu entbinden. Es blieb also bei Witkoffs Ultimatum.

In der Nacht zum 18. März begannen massive Bombardements des nördlichen Gazastreifens, wohin im Januar zehntausende in den Süden geflüchtete Palästinenser*innen zurückgekehrt waren. Von weiteren Bombardements unterstützt, rücken die IDF nun an mehreren Fronten vor und drängen die Menschen erneut zur Flucht. Erklärtes Ziel von Netanjahus Regierung ist es, Teile des Gazastreifens erneut dauerhaft zu besetzen. Damit kommt er dem Wunsch seiner rechtsradikalen Minister Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir nach, die von israelischer Wiederbesiedelung träumen. Ben Gvir, der wegen des Waffenstillstands aus der Regierung ausgetreten war, ist seit der Wiederaufnahme des Krieges ins Kabinett zurückgekehrt.

Am letzten Märzwochenende wagten hunderte Menschen in Gaza das Risiko, die von der Hamas bislang erzwungene Loyalität infrage zu stellen. Bestärkt wurden sie darin auch von der Autonomiebehörde im Westjordanland, die die Hamas zum Einlenken ermahnt hatte, da sie sonst die Existenz des palästinensischen Volkes gefährde. In Beit Lahya, im nördlichen Gazastreifen fingen die Kundgebungen an. Und sie setzten sich fort in Jabalia, Khan Yunis und Gaza-Stadt. Männer, Jugendliche und Kinder protestierten zwischen Trümmern auf Straßen gegen den Krieg. Zwei kleine Mädchen trugen Schilder mit der Aufschrift: »Wir wollen nicht sterben!« Erwachsene schrien verzweifelt: »Es reicht!« »Wir sind ein friedfertiges Volk! Wir wollen leben wie andere Völker auch!«. Hin und wieder war auch zu hören: »Hamas raus!« Weniger sensationell war, dass auch Netanjahu lauthals angeklagt wurde.

Gegen Hamas und Netanjahu

Das waren vor allem eindringliche Appelle an die Teile der Weltöffentlichkeit, die verbal Menschenrechte und Gerechtigkeit hochhalten, im Konflikt zwischen Israel und den Palästinenser*innen aber beispiellose Doppelmoral an den Tag legen. Dass westliche Medien auch die Berichte über die Demonstrationen erstaunlich kurz hielten und nicht zu interpretieren wagten, zeugt von verdrängtem Wissen um die eigene Förderung dieses Krieges. Zugleich scheint mancherorts die politische Unterstützung von Israels Vorgehen jede Scham abzulegen. Trotz Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) traf Netanjahu auf Einladung Viktor Orbans am 2. April zu einem Staatsbesuch in Budapest ein. Um ihn nicht verhaften zu müssen, verkündete Ungarns Premier den Austritt des Landes aus dem IStGH.

Mehr Aufmerksamkeit als in Europa maß man in Israel den Demonstrationen im Gazastreifen zu. Man fragte sich ernsthaft, ob dort eine »Revolution gegen die Hamas« beginne, worauf Netanjahu und Verteidigungsminister Israel Katz die Bewohner*innen des Gazastreifens aufforderten, die Hamas zu verjagen. Dann könne es Frieden geben. Der Journalist Jack Khoury wandte in der israelischen Zeitung Haaretz ein, dass zur aktiven Beteiligung der Gazaouis am Sturz der Hamas doch mehr Entgegenkommen von Seiten Israels nötig wäre als die bloße Aussicht auf erneute Besatzung und Besiedlung.

Die Regierung in Jerusalem hat nun eine Institution geschaffen, die die »freiwillige Umsiedlung aus dem Gazastreifen« ermuntern und organisieren soll. Damit würde freilich nur das Recht auf Freizügigkeit wiederhergestellt, das den Bewohner*innen des Gazastreifens bisher strikt verweigert worden ist. Da Ägypten und Jordanien bislang die Aufnahme von Palästinenser*innen ausschließen, würden wohl nur gut ausgebildete Fachkräfte Aufenthaltsorte irgendwo in der Welt finden, was die Lage der Zurückbleibenden noch prekärer machen würde. Die Ausreise soll endgültig sein, ein Rückkehrrecht ist nicht vorgesehen.

Es gibt auch Gerüchte, wonach Israel und die USA mit etlichen afrikanischen Staaten verhandeln, damit sie größere Geflüchtetenlager für Palästinenser*innen errichten. Im Westjordanland haben die IDF im Verbund mit bewaffneten Siedler*innen ebenfalls begonnen, systematisch Palästinenser*innen in Richtung Norden zu verdrängen.

Netanjahu sieht sich angesichts militärischer Erfolge auch im Libanon und in Syrien auf der Erfolgsspur. Aber auch seine Armee zeigt Ermüdungserscheinungen. Daher ist fraglich, ob Israel nicht dabei ist, seinen Machtanspruch zu überdehnen.

Sabine Kebir

ist Autorin von Sachbüchern, Belletristik und Kinderbüchern. Sie arbeitet als freie Publizistin u.a. zu den Themen Naher Osten, Kultur und Literatur.