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Freihandel vs. Demokratie in Chile

Das modernisierte Assoziierungsabkommen mit der EU könnte auch den gerade gestarteten Verfassungsprozess im Land untergraben

Von Sophia Boddenberg

In Las Condes, schillernder Finanzdistrikt Santiago de Chiles, sind auch viele europäische Investor*innen ansässig. Sie wollen sich ihren Handlungsspielraum nicht durch den Verfassungsprozess eingeschränkten lassen. Foto: Deensel/Flickr, CC BY 2.0

Handel für alle« heißt die Handels- und Investitionsstrategie, die die Europäische Union 2015 vorgelegt hat, um auf die zunehmende Kritik von Umwelt- und Menschenrechtsschutzorganisationen zu reagieren. Handelsabkommen sollten künftig als Hebel eingesetzt werden, »um weltweit Werte wie nachhaltige Entwicklung, Menschenrechte, fairen und ethischen Handel sowie die Bekämpfung der Korruption zu fördern«, schreibt die ehemalige EU-Handelskommissarin Cecilia Malström in einem Dokument der Europäischen Kommission.

Im Rahmen dieser Strategie werden zurzeit Freihandelsabkommen mit mehreren Ländern Südamerikas verhandelt, unter anderem mit Peru, Kolumbien, Ecuador und Chile. Das Handelsabkommen mit den Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay wurde im Oktober 2020 vom EU-Parlament abgelehnt. Grund dafür waren unter anderem die Amazonasbrände und die Vertreibung von Indigenen durch Bergbaukonzerne in Brasilien sowie die fehlenden Sanktionsmechanismen im Abkommen, um das zu verhindern.

Keine Sanktionen

Eine ähnliche Kritik gibt es auch an dem Abkommen, das mit Chile verhandelt wird. Genau wie das Mercosur-Abkommen enthält der Entwurf für das Freihandelsabkommen mit Chile ein Kapitel mit dem Namen »Handel und Nachhaltige Entwicklung«. Dieses sieht aber keine verbindlichen Mechanismen vor, um Nachhaltigkeitsziele auch umzusetzen. »Das Nachhaltigkeitskapitel sowohl des Mercosur- als auch des Chile-Abkommens ist ein zahnloser Tiger. Letztendlich dominieren die Machtinteressen«, sagt Helmut Scholz, EU-Abgeordneter der Linkspartei und Mitglied im Ausschuss für Internationalen Handel des EU-Parlaments. Das sei einfach zu wenig, um den neuen Erfordernissen einer Umorientierung hinsichtlich eines sozialökologischen Umbaus der Wirtschaft gerecht zu werden. »Wir brauchen Mechanismen, die eine Umorientierung des Wirtschaftens auf beiden Seiten des Atlantiks ermöglichen«, so Scholz.

Das Abkommen sieht auch keine Sanktionen vor, wenn Menschenrechte verletzt werden. Judith Schönsteiner, Direktorin des Zentrums für Menschenrechte der Universidad Diego Portales in Santiago de Chile, dokumentiert Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen in Chile. Dazu gehören die Verletzung von Arbeitsrechten, die Verletzung der territorialen Rechte indigener Völker und die Verletzung des Rechts auf Wasser und auf eine saubere Umwelt, da Bergbau- und Agrarunternehmen häufig ihre giftigen Abfälle in die Flüsse oder ins Meer ableiten. »Die Kapitel zu Umweltschutz und Menschenrechten in Freihandelsabkommen sind normalerweise die unverbindlichsten Kapitel, vor allem, weil sie so nicht justizierbar sind, man sie also nicht einklagen kann«, sagt Schönsteiner. »Und besonders kann sie niemand einklagen, der Opfer ist. Das müsste der Staat übernehmen. Und das wird meistens nicht gemacht.«

Rohstoffabbau statt Nachhaltigkeit

Bei dem Abkommen mit Chile handelt es sich um ein Assoziierungsabkommen, das seit 2003 besteht und das jetzt »modernisiert« werden soll. Die Verhandlungen laufen seit 2017 und sollen 2021 abgeschlossen werden. Seit der Ratifizierung des Abkommens hat sich der Handel zwischen Chile und der EU mehr als verdoppelt. Chile exportiert größtenteils Rohstoffe aus dem Bergbau und Agrarerzeugnisse in die EU, wie zum Beispiel Kupfer, Lithium, Zellstoff, Avocados, Blaubeeren, Wein, Nüsse und Lachs. Die EU hingegen liefert vor allem Fahrzeuge, Flugzeuge, Medikamente und chemische Produkte nach Chile.

Der Anbau von Avocados, die Forstplantagen für Holz- und Zelluloseprodukte sowie der Abbau von Lithium in Chile haben in der Vergangenheit zu Wasserknappheit und Landkonflikten mit den indigenen Völkern geführt. Juana Calfunao ist lonko, eine Autorität des Volks der Mapuche, und setzt sich gegen die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und Energieprojekte europäischer Unternehmen wie beispielsweise Wasserkraftwerke und Windparks im Territorium der Mapuche ein. Sie war deshalb schon mehrfach im Gefängnis und hat die Menschenrechtsverletzungen gegenüber dem Volk der Mapuche vor der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte angeklagt. »Keine Autorität unseres Volks wurde je bezüglich des Assoziierungsabkommens konsultiert«, sagt sie. »Die europäischen Unternehmen zerstören die Biodiversität in unserem Territorium, und wir kommen ins Gefängnis, weil wir sie beschützen wollen.«

Die Saisonarbeiter*innen, die in der Ernte arbeiten, klagen über prekäre Arbeitsbedingungen. Viele haben keinen Arbeitsvertrag und damit keinen Arbeitsschutz. Mehr als 40 Prozent der arbeitenden Bevölkerung in Chile arbeiten im informellen Sektor. »Die Saisonarbeiterinnen, die in der Ernte für das Agrobusiness arbeiten, werden wie Wegwerfprodukte behandelt. Unsere Körper werden durch den Pestizideinsatz vergiftet. Viele Frauen haben Krebs und gebären Kinder mit Fehlbildungen«, sagt Alicia Muñoz von Anamuri (Asociación Nacional de Mujeres Rurales e Indígenas), einer Vereinigung von Kleinbäuerinnen, Saisonarbeiterinnen und indigenen Frauen. Der Import von Pestiziden europäischer Unternehmen wie Bayer, BASF und Syngenta nach Chile ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Einige dieser Produkte sind in der EU wegen ihrer Gesundheitsschädlichkeit verboten, wie zum Beispiel Paraquat.

Das Kapitel über geistiges Eigentum, das zu den Vorschlägen der EU gehört, sieht außerdem vor, dass Chile das Internationale Übereinkommen zum Schutz von Pflanzenzüchtungen UPOV 91 unterschreibt. Dadurch könnte die Privatisierung von Saatgut zunehmen. Das führte aber nicht nur zu einem Verlust der Biodiversität, sondern gefährde auch die Ernährungssicherheit, beklagt Muñoz. »Wenn traditionelles Saatgut patentiert wird, können die Kleinbäuerinnen es nicht mehr anpflanzen. Das ist dann eine Straftat.«

Investitionsschutz vor Demokratie

Zu den Vorschlägen der EU für das neue Handelsabkommen mit Chile gehört auch ein Kapitel zum Investor*innenschutz. Die EU möchte einen Investitionsgerichtshof (auf Englisch: Investment Court System, ICS) einführen, um Konflikte zwischen Investor*innen und Staaten zu lösen. Diese Gerichtshöfe stehen stark in der Kritik, weil sie ermöglichen, dass transnationale Konzerne Staaten auf Entschädigungszahlungen in Milliardenhöhe verklagen, wenn ihre Gewinne durch politische Entscheidungen beeinträchtigt werden. (ak 667, 669) Das kann beispielsweise passieren, wenn Gesetze zum Arbeitnehmer*innen- oder Umweltschutz verabschiedet oder natürliche Ressourcen verstaatlicht werden. Mit dem ICS werde ein paralleles Gerichtssystem für die reichsten Akteure der Gesellschaft etabliert, sagt Pia Eberhardt von der lobbykritischen Organisation Corporate Europe Observatory. »Es gibt Investoren mehr Rechte als alle nationalen Verfassungen oder die EU-Gesetze.«

Für den gerade erst begonnenen demokratischen Verfassungsprozess in Chile könnte sich diese Klagemöglichkeit als gefährlich erweisen. In Chile haben bei einem Referendum am 25. Oktober 2020 nach mehr als einem Jahr massiver Proteste im ganzen Land knapp 80 Prozent dafür gestimmt, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Die aktuelle Verfassung stammt noch aus der Pinochet-Diktatur (1973-1990), während der soziale Grundrechte wie Bildung, Renten und Gesundheitsversorgung privatisiert wurden. Die Rolle des Staats wurde darin auf ein Minimum reduziert und privaten Unternehmen mehr Rechte eingeräumt als den Bürger*innen. Im Mai 2021 wurden die 155 Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung gewählt, die jetzt bis zu einem Jahr lang Zeit haben, um die neue Verfassung auszuarbeiten.

Europäische Investor*innen verfügen über großen Einfluss in Chile. Ein Drittel der Direktinvestitionen im Land kommt aus der EU.

Der verfassunggebende Prozess in Chile könnte durch das Abkommen mit der EU behindert werden. Europäische Investor*innen verfügen jetzt schon über großen Einfluss in Chile. Ein Drittel der Direktinvestitionen im Land kommt aus der EU: Man findet sie im Energiesektor, im Bergbau, in der Telekommunikation und Infrastruktur, aber auch in den privaten Rentenfonds, im Gesundheits- und Bildungsbereich. Wenn das neue Freihandelsabkommen mit der EU ratifiziert wird und Chile eine neue Verfassung verabschiedet, die beispielsweise eine staatliche Rentenversicherung vorsieht oder den Abbau von Rohstoffen einschränkt, könnten europäische Investoren den chilenischen Staat verklagen – oder zumindest damit drohen.

»Den Chilen*innen droht eine Welle von Schiedsgerichtsklagen, wenn irgendeine Reform die unternehmerischen Prioritäten multinationaler Konzerne betrifft«, sagt Gus Van Harten, Professor für Verwaltungsrecht an der York University und Experte in Investitionsrecht. »Kolumbien wurde zum Beispiel mit einer Klage gedroht, weil das Verfassungsgericht entschieden hat, dass private Gesundheitsunternehmen bestimmte Medikamente unter Umständen kostenlos anbieten müssen.«

Die Regierung von Sebastián Piñera, Bruder von Pinochets Arbeitsminister, hat von Anfang an mit Repression auf die Proteste für eine neue Verfassung reagiert – es laufen über 2.500 Klagen wegen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Akteur*innen. Verurteilt wurden bisher nur wenige. Trotzdem haben seit dem Beginn der Proteste am 18. Oktober 2019 vier Verhandlungsrunden für das Freihandelsabkommens mit der EU stattgefunden. Die chilenische Regierung und die Europäische Kommission wollen die Verhandlungen für das neue Abkommen so schnell wie möglich abschließen – noch bevor die neue Verfassung den Einfluss der Investor*innen einschränken könnte.

Sophia Boddenberg

lebt in Chile und ist freie Journalistin. Sie schreibt über Umweltkonflikte, soziale und politische Bewegungen und Feminismus.