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Flucht ohne Ankunft

Pakistan hat mit massenhaften Abschiebungen afghanischer Geflüchteter ins Nachbarland begonnen

Von Pajam Masoumi

Foto eines Menschen in langen beigen Gewändern der hinter einem vollbeladenen Hänger herläuft und die gestapelten Sachen festhält
Pakistans Regierung hat 1,7 Millionen Afghan*innen mit Abschiebung gedroht. Vor Ende des aufgestellten Ultimatum sind bereits über 100.000 Menschen »freiwillig« ausgereist Foto: Voice of America, Public domain

Mehr als vier Millionen Afghan*innen leben in Pakistan, unter ihnen sind 1,7 Millionen Menschen ohne gültige Papiere. Anfang September stellte die Regierung Pakistans an sie ein Ultimatum: Bis Ende Oktober sollten alle Afghan*innen ohne Aufenthaltsgenehmigung das Land verlassen. Seit dem 1. November haben die pakistanischen Behörden nach eigenen Angaben mit Massenabschiebungen begonnen. 400.000 Menschen seien bereits über die Grenze nach Afghanistan ausgereist, heißt es aus Islamabad. Wer nicht »freiwillig« das Land verlässt, wird verhaftet und in extra eingerichteten Abschiebezentren inhaftiert. Human Rights Watch berichtet von nächtlichen Razzien, Massenverhaftungen, Enteignungen gegen Afghan*innen.  Bei einigen sollen Wohnungen zerstört und Pässe entwendet worden sein sowie Geld und andere Wertgegenstände.

Pakistan ist das Land mit den meisten afghanischen Geflüchteten überhaupt. Die nun begonnenen Abschiebungen sollen angeblich zur »inneren Sicherheit« beitragen, so der Innenminister Pakistans, Sarfaraz Bugti. Die Massenabschiebungen können auch als Teil des Wahlkampfs der Übergangsregierung angesehen werden, die nach der Verhaftung von Ex-Präsident Imran Khan nun die parlamentarische Bestätigung ihrer Macht erwartet. Derzeit wird die Regierung von Anwarul Haq Kakar angeführt, ein bis dahin eher unbekannter Lokalpolitiker aus der Provinz Belutschistan. Seine Ernennung gilt als Kompromiss zwischen Opposition und dem ehemaligen Premierminister Shehbaz Sharif. Kakar gehört keiner größeren oder etablierten Partei an, gründete jedoch 2018 eine eigene, die Partei Balochistan Awami Party (BAP).

Brüder im Geiste

Nach der Machtübernahme der afghanischen Taliban sollen die pakistanischen Taliban (Tehrik-e Taliban Pakistan/TTP, eine Dachorganisation mehrerer islamistischer Gruppen mit Tausenden Kämpfern) wieder an Stärke und Popularität gewonnen haben. Seit mehr als 20 Jahren führt die TTP einen bewaffneten Kampf gegen die Regierung in Islamabad. Die pakistanischen und afghanischen Taliban sind ideologisch geeint, führen jedoch keine gemeinsamen Operationen durch. Pakistans Regierung wirft den afghanischen Taliban vor, die TTP zu schützen. Die Taliban haben bis zur Beendigung der Waffenruhe durch die TTP Ende 2022 immer wieder Verhandlungen zwischen pakistanischen Vertretern und der TTP begleitet.

Die Tehrik-e Taliban Pakistan ist keine homogene Gruppe, sondern setzt sich aus unterschiedlichen islamistischen Organisationen zusammen, deren vorrangiges Ziel der Sturz des pakistanischen Staates ist. Allein im August soll die TTP in knapp 150 Gefechte mit pakistanischen Streitkräften verwickelt gewesen sein, zwischen Januar und September 2023 über 20 Selbstmordanschläge durchgeführt und dabei knapp 230 Pakistanis getötet und über 400 verletzt haben.

Unter den von Abschiebung bedrohten Menschen befinden sich Afghan*innen, die bereits beim Einmarsch der Sowjetunion 1979 nach Pakistan geflohen sind.

Die Taliban in Afghanistan haben den nun abgeschobenen Afghan*innen zwar Hilfe versprochen. NGOs berichten jedoch über prekäre Bedingungen in den von den Taliban errichteten Aufnahmelagern: Es fehlt an Wasser, Essen, Heizmöglichkeiten, Hygieneeinrichtungen und Unterkünften. Viele der in Afghanistan gestrandeten müssen unter freiem Himmel schlafen. Das ist besonders bei dem nun einsetzenden Winter lebensgefährlich, nachts können die Temperaturen bis Minus 30 Grad fallen. Die Hilfsorganisation Islamic Relief berichtet, das über 90 Prozent der Rückkehr*innen obdachlos seien, 40 Prozent davon Kinder. Die humanitäre Lage in Afghanistan war schon vor den Massenabschiebungen katastrophal. Über 29 Millionen Afghan*innen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, viele von ihnen haben keinen sicheren Zugang zu Wasser und Nahrung.

Unter den von Abschiebung bedrohten Menschen befinden sich Afghan*innen, die bereits beim Einmarsch der Sowjetunion 1979 nach Pakistan geflohen sind. Auch ihre Nachkommen besitzen, obwohl sie in Pakistan geboren und aufgewachsen sind, keine pakistanischen Pässe und sind jetzt von Abschiebungen bedroht. Manche können nicht einmal Paschtu, die afghanische Landessprache. Arshad Malik, Direktor der Organisation Save the Children, geht davon aus, dass in Folge der Ausweisungen das Armutsrisiko für die Abgeschobenen steigen wird, und prognostiziert einen Anstieg von Kinderarbeit in den nächsten Jahren.

Auch Menschen, die nach der Machtübernahme der Taliban nach Pakistan geflohen sind und nun auf Ausreise in die USA, Kanada oder Deutschland warten, sind von den Massenabschiebungen bedroht. Eine ehemalige Mitarbeiterin von Terre des Hommes berichtet, dass sie in ständiger Angst vor pakistanischen Behörden lebe, sich verstecken müsse, es keine medizinische Versorgung für Afghan*innen ohne Papiere gebe.

Neben NGO-Mitarbeitenden droht auch den sogenannten Ortskräften in Afghanistan die Verhaftung. Bereits im August wurden 26 Mitarbeitende von Hilfsorganisationen durch die Taliban inhaftiert, im Oktober und November folgten Verhaftungen von vier afghanischen Ortskräften, die für die deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) arbeiteten. Aber auch Afghan*innen, die keine Verbindungen zu NGOs oder ausländischen staatlichen Institutionen haben, müssen bei der Rückkehr nach Afghanistan Menschenrechtsverletzungen fürchten, warnt die UN. Besonders Frauen und Minderheiten werden von den Taliban und anderen islamistischen Gruppen wie dem IS bedroht. In Herat, der zweitgrößten Stadt Afghanistans, kommt es immer wieder zu Anschlägen auf Schiit*innen. Besonders Hazara, eine ethnische und schiitische Minderheit, die bereits während der letzten Talibanherrschaft verfolgt wurde, sind von diesen Anschlägen betroffen.

Ein Aufnahmeprogramm ohne Aufnahmen

Die deutsche Bundesregierung hat pakistanischen Behörden Listen mit Personen übermittelt, die zu einer Einreise nach Deutschland berechtigt sind. Angesichts des schleppenden Aufnahmeprogramms stellt sich die Frage, wie erfolgsversprechend die Prüfung sein wird. Seebrücken-Sprecher Jan Behrends fordert: »Deutschland sollte das Bundesaufnahmeprogramm endlich so umsetzen, dass dieses wirklich Menschen schützt und nicht nur Symbolpolitik bleibt. Wir fordern von der Bundesregierung, Schutzmaßnahmen radikal auszuweiten und eine Lösung zu präsentieren, die allen gefährdeten Menschen in Afghanistan, insbesondere FLINTA*, queeren Menschen und ethnischen Gruppen wie deb Hazara, gerecht wird. Die aktuellen Entwicklungen in Afghanistan erfordern eine verantwortungsvolle und umfassende Handlung seitens Deutschlands und der anderen Nato-Mächte.«

Aktuell warten rund 11.500 Afghan*innen auf die Einreise nach Deutschland, 3.000 von ihnen sollen sich derzeit in Pakistan aufhalten. Bisher läuft die Einreise im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms schleppend: Seit Juni 2023 sind knapp 600 afghanische Geflüchtete in Deutschland angekommen, angepeiltes Ziel des Programms sind jedoch 1.000 Geflüchtete im Monat. Bis Juni wurde keine einzige Person im Rahmen des 2021 gestarteten Aufnahmeprogramms evakuiert, viele Ortskräfte und Afghan*innen, die sich politisch, sozial oder künstlerisch engagiert haben, fühlen sich seit der Machtübernahme alleingelassen. Seebrücken-Sprecherin Leni Hintze erklärt dazu: »Es ist eine moralische Bankrotterklärung, dass Menschen, die so eng mit Deutschland verbunden sind, im Stich gelassen werden und nun um ihr Leben bangen müssen.«

Nicht nur Deutschland versagt in der Hilfe für Afghan*innen: Der regionale »Flüchtlingshilfeplan« der Vereinten Nationen ist erst zu 15 Prozent finanziert. Ob, wann und vor allem wie sich die Lage für Afghan*innen ändern wird, ist unklar.

Pajam Masoumi

ist in der Online-Redaktion bei ak.