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Freiheitlich-demokratische Abgabenordnung

Linke Organisationen sehen sich vielerorts einem Extremismusvorwurf durch den Verfassungsschutz ausgesetzt – und verlieren ihre Gemeinnützigkeit

Von Moritz Assall

Menschen vor dem Marx-Engels-Denkmal in Berlin
Reden hoffentlich nur über das Wetter: Menschen am Denkmal für Marx und Engels in Berlin, den Vätern extremistischen Gedankenguts. Foto: Alistair Young / Flickr, CC BY 2.0

Einige Jahre ist es her, da gab es ein leichtes Hoffnungsschimmern am Horizont; Hoffnung darauf, dass die Verfassungsschutzämter zumindest in einer kleinen Legitimationskrise steckten. Ihr totales Versagen mit Blick auf den NSU hatte selbst die sonst nicht gerade institutionenkritische FAZ zu dem harschen Urteil verleitet: »Die großen, durch niemanden kontrollierten Apparate schaffen sich den Gegenstand, der ihre Existenz rechtfertigt, irgendwann selbst: als dürften Drogenfahnder auch mit Mohnsamen umgehen. Heute können wir nur ihr völliges Versagen feststellen (…). Die Dienste dienen nur sich selbst. Es ist darum richtig, sie aufzulösen.«

Rückblickend war diese Hoffnung leider völlig unbegründet. Die Ämter waren nie in einer echten Krise, sie wurden im Gegenteil in den Folgejahren finanziell und personell massiv aufgerüstet, ihre Befugnisse ausgeweitet und ihre Wirkfelder ausgebaut. Seit einigen Jahren drängen sie außerdem auch in den Bildungsbereich und betreiben selbst zunehmend Öffentlichkeitsarbeit. Anders formuliert: Die Verfassungsschutzämter wandeln sich von beobachtenden Institutionen im Stile eines »klassischen« Geheimdienstes hin zu wirkmächtigen Hegemonieapparaten, die mit offensiver Öffentlichkeitsarbeit durch ihre Berichte und darüber hinaus die gesellschaftlichen Vorstellungen in manchen Bereichen bearbeiten, wenn nicht gar beherrschen.

Die Wahrheiten des Verfassungsschutzes

»Hegemonieapparate« – dieser etwas sperrige Begriff geht zurück auf den italienischen Philosophen und Kommunisten Antonio Gramsci. Im Anschluss an seine grundlegenden Arbeiten bildete sich seit den 1970er Jahren eine soziologische Schule heraus, die die Gesellschaft anhand der Kategorie »Hegemonie« zu begreifen versucht. Gramscis Kernidee ist dabei, dass Führung in modernen kapitalistischen Gesellschaften primär durch die Erzeugung von Konsens und Einsicht in ein »System vergesellschafteter Wahrheiten« stattfindet. In anderen Worten: Politische Macht im modernen, kapitalistischen Staat beruht nicht in erster Linie auf der potenziellen oder tatsächlichen Ausübung von Zwang und Gewalt etwa durch die Polizei, sondern auf der stetig produzierten und reproduzierten Zustimmung der Menschen zu einem System von Werten, Zeichen, Institutionen, Theorien und Praxen, das die Weltanschauung in einer Gesellschaft ausmacht – und das umgekehrt das gesellschaftliche Bewusstsein für mögliche Alternativen verschließt. Es geht also um Narrative, die von den Menschen einer Gesellschaft als selbstverständlich angesehen und verinnerlicht werden, als »gesunder Menschenverstand«, als gar nicht mehr zu hinterfragendes »Ist-halt-so«.

Der Verfassungsschutz schützt nicht die Verfassung dieser Gesellschaft, er schützt ihre Verfasstheit.

Mit dem Begriff der Hegemonieapparate versuchte Gramsci nun, die Tatsache zu umschreiben, dass eine hegemoniale Weltanschauung keineswegs nur gedanklich, als eine Art gemeinsamer Vorstellung existiert. Vielmehr verstetigt sie sich in den Apparaten einer Gesellschaft und wird so »eine objektive und wirkende Realität«. Solche Apparate sind beispielsweise die Schulen, Massenmedien, Verbände oder Gerichte. Hegemonieapparate sind Teil der Gesellschaft und insofern aktiv am Ringen um Hegemonie beteiligt: Sie bieten gesellschaftliche Narrative an und organisieren den darauf aufbauenden Konsens in Bezug auf eine bestimmte Ordnung.

Die Verfassungsschutzämter sind geradezu Paradebeispiele für Hegemonieapparte in diesem Sinne. Die Hauptzutaten für ihre Erzählung sind: Extremismustheorie und »freiheitlich-demokratische Grundordnung« (fdGO). Die Verfassungsschutzämter sollen die Unversehrtheit der fdGO schützen, so steht es im Gesetz. Juristisch soll die fdGO die Menschenwürde sowie das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip umfassen. Aber was bedeutet das konkret?

Bereits vor über 40 Jahren schrieb der Jurist Erhard Denninger: »Auch künftig wird nicht etwa die fdGO-Formel die Praxis steuern, sondern umgekehrt werden die aktuellen Bedürfnisse der politischen Ausgrenzungspraxis den Inhalt der juristischen Formel füllen.« Daran hat sich nichts geändert – in der Praxis ist die fdGO nichts anderes als eine Umschreibung für den hegemonialen Status quo in Deutschland, der vor »Extremist*innen« zu schützen sei. Das ist der Grund, warum Proteste etwa gegen Gentrifizierung, die in keinerlei Widerspruch zur Verfassung stehen, kaum dass sie die Eigentumsfrage stellen, dennoch von den Ämtern beobachtet und inkriminiert werden. In anderen Worten: Die Ämter werden tätig bei Bestrebungen gegen die hegemoniale Anschauung in Deutschland. Der Verfassungsschutz ist gar kein Verfassungsschutz. Der Verfassungsschutz ist ein Hegemonieschutz. Er schützt nicht die Verfassung dieser Gesellschaft, er schützt ihre Verfasstheit.

Kafkaeskes Steuerrecht

Dies geschieht vermehrt über ein auf den ersten Blick überraschendes Instrument: das Steuerrecht. Nach §51 der Abgabenordnung ist nämlich »widerlegbar davon auszugehen«, dass Organisationen, die in einem Verfassungsschutzbericht gelistet sind, gegen die – Überraschung – »freiheitliche demokratische Grundordnung« gerichtet seien, weswegen ihnen der Status der Gemeinnützigkeit zu entziehen sei. Diese Norm, die eigentlich schon seit Jahren besteht, wurde durch ein Urteil des Bundesfinanzhofs aus 2018 erst so richtig zum Leben erweckt. Der Bundesfinanzhof entschied, dass einem Verein aufgrund der Zuschreibung als »extremistisch« in einem Verfassungsschutzbericht die Gemeinnützigkeit entzogen werden müsse. Dabei genügt schon die Auflistung durch die Verfassungsschutzämter zur Aberkennung der Gemeinnützigkeit – es sei denn, der betroffene Verein kann die damit verbundene Extremismusvermutung durch »vollen Beweis des Gegenteils« widerlegen. Denn, so das Gericht, eine bloße »Erschütterung ist nicht ausreichend«.

Zur Sicherstellung der Durchsetzung dieses Urteils wies das Bundesfinanzministerium 2019 mit einem Erlass alle Finanzämter in Deutschland an: Es darf kein Verein mehr den Status der Gemeinnützigkeit erhalten, der durch die Inlandsgeheimdienste gelistet wird. Keine steuerlichen Vorteile für Extremist*innen! Wer aber ist Extremist*in? Extremist*in ist, wer im Bericht des Verfassungsschutzes gelistet wird. Die daraus folgende, manchmal existenzbedrohende Aberkennung der Gemeinnützigkeit, kann dann nur noch »durch vollen Beweis des Gegenteils« widerlegt werden. Es muss also positiv der Beweis erbracht werden, nicht extremistisch im Sinne der Verfassungsschutzämter zu sein. Nur: Selbst, wenn man das wollte – wie soll das gehen?

Die manchmal existenzbedrohende Aberkennung der Gemeinnützigkeit kann dann nur noch »durch vollen Beweis des Gegenteils« widerlegt werden.

Welche absurd-kafkaesken Züge das annehmen kann, zeigt ein aktuell laufendes Verfahren gegen die Marxistische Abendschule Hamburg (MASCH). Dieser Verein bietet seit vielen Jahren Lesekreise zu Marx an, sowie in den letzten Jahren einiges zu Hegel oder Autor*innen, die sich zumindest im weiteren Sinne der »kritischen Theorie« zuordnen lassen. Alles also Aktivitäten, denen selbst das bürgerlichste Feuilleton bisweilen noch etwas abgewinnen kann – und wie sie im Übrigen auch an Universitäten stattfinden. Dem zum Trotz wird die MASCH seit vielen Jahren im Verfassungsschutzbericht aufgeführt. Warum, weiß das Amt wohl selbst nicht so genau. Im Bericht des Hamburger Verfassungsschutzes aus dem Jahr 2019 ist lediglich zu lesen, die MASCH sei »hauptsächlich als MASCH-Hochschulgruppe im Universitätsbereich tätig und bietet dort Gesprächs- und Lesekreise an. Auch dort steht die Marx-Lektüre im Vordergrund.«

Verfassungsfeindliche Marxlektüre?

Das war es, mehr steht da nicht. Dieser dürre Satz reichte gleichwohl als Begründung für ein Schreiben des Finanzamtes an die MASCH, in dem dieser mitgeteilt wird, dass ihr die Gemeinnützigkeit entzogen wird – sollte sie nicht die Extremismusvermutung durch vollen Beweis des Gegenteils widerlegen. Bleiben die Fragen: Worin genau besteht nochmal der Extremismusvorwurf? Und was bitte passiert hier gerade? Nichts, was die MASCH tut, verstößt gegen die Verfassung. Ganz im Gegenteil. Dennoch wird die bloße Marxlektüre, kaum dass dabei eine kapitalismuskritische Haltung zum Ausdruck kommt, durch den Hegemonieapparat Verfassungsschutz im Sinne seines »Systems vergesellschafteter Wahrheiten« als extremistisch gekennzeichnet und damit gesellschaftlich verdammt. Die dahinterliegende Extremismusdoktrin ist dabei hegemonial genug, dass Gerichte und Finanzämter solche Verdikte unhinterfragt exekutieren – und sei es noch so offensichtlich unsinnig.

Mit vergleichbaren Vorgängen dürften gerade eine ganze Reihe linker Organisationen zu tun haben, was für die linke politische Landschaft in Zukunft erhebliche Auswirkungen haben könnte. Ohnehin mehren sich die Aberkennungen der Gemeinnützigkeit linker Organisationen nach dem als »attac-Urteil« bekanntgewordenen Grundsatzurteil des Bundesfinanzhofs im Januar 2019. In diesen Fällen geht es nicht um den Extremismusstempel der Verfassungsschutzämter, sondern letztlich um die Frage, ob »allgemeinpolitische Tätigkeit« mit Gemeinnützigkeit im Sinne der Abgabenordnung vereinbar sei. Hinzu kommen nun voraussichtlich reihenweise Aberkennungsverfahren wegen Nennung in den Verfassungsschutzberichten, so wie etwa die schon bekannt gewordenen Attacken auf die Gemeinnützigkeit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (ak 655) oder eben der MASCH.

In seiner Rede zur Vorstellung des die MASCH als extremistisch inkriminierenden Hamburger Verfassungsschutzberichts zitierte Innensenator Andy Grote (SPD) übrigens Albert Camus mit den Worten: »Die Freiheit besteht in erster Linie nicht aus Privilegien, sondern aus Pflichten« und leitete daraus die Pflicht ab, »Extremisten klare Grenzen« aufzuzeigen. Ob Andy Grote bei seiner Vorstellung wohl bewusst war, dass Albert Camus nicht nur Literaturnobelpreisträger war, sondern auch Anhänger des Anarchosyndikalismus und Befürworter der Abschaffung von Lohnarbeit unter Vergesellschaftung der Produktionsmittel?

Moritz Assall

ist Jurist und Kriminalsoziologe. Er arbeitet für die Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft.