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Mauern heißen jetzt Infrastruktur

Der Ausbau der EU-Grenzen kommt einem Ende des Asylrechts gleich

Von Carolin Wiedemann

Nur noch Stacheldraht und Mauern sollen die Migration in die EU regulieren. Foto: Bör Benedek / Flickr , CC BY 2.0

Die Öffentlichkeit stumpfe beim Thema Flucht und Asyl zunehmend ab, resümiert der Deutschlandfunk. Anfang Februar trafen sich die EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel, um erneut über eine gemeinsame Migrations- und Asylpolitik zu beraten. Das Ergebnis dieses Gipfels ist eine Zäsur: Bislang beharrten immer noch einige Staaten darauf, Flüchtenden einen besseren Zugang zu Asylverfahren zu bieten, Verfahren zu vereinheitlichen und zu beschleunigen und Schutzbedürftige dann gleichmäßiger zu verteilen und zu versorgen. Doch diese Staaten sind eingeknickt — das rechte Lager hat sich nun auch offiziell durchgesetzt, mit Forderungen, die es im Herbst 2021 genauso formuliert hatte. (ak 676) Das Papier, auf das sich die Politiker*innen in Brüssel geeinigt haben, gibt nicht einmal mehr vor, am Asylrecht festhalten zu wollen. Es signalisiert ganz offen: Wir wollen die Grenzen hochziehen — und zwar um jeden Preis.

Bereits in der Vergangenheit hat die EU der Agentur Frontex und den Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen Gelder zukommen lassen, um die sogenannte irreguläre Migration zu stoppen. Als gäbe es für Flüchtende reguläre Wege nach Europa. Kroatien wurde etwa mit dem Schengenbeitritt belohnt, weil in den vergangenen Jahren weniger Asylsuchende über die Balkanroute nach Europa gelangten. Wie die Länder dabei jeweils vorgingen, wollte die Kommission gar nicht wissen. Als Journalist*innen und Menschenrechtsorganisationen Pushbacks und den Einsatz von Elektroschockern, Schlagstöcken sowie Pfefferspray gegen Geflüchtete aufdeckten, beteuerten EU-Politiker*innen Aufklärung. Und tatsächlich hatten einige Ermittlungen Konsequenzen: Letztes Jahr musste der Frontex-Chef zurücktreten.

Auch Mauern werden sie nicht abhalten. Das tut erst ein Schießbefehl, wie Expert*innen bereits warnen.

Wenn nun aber die EU offiziell beschließt, Gelder in »Infrastruktur« zur Abschottung zu investieren und es dabei explizit um Zäune, Mauern und Überwachungstechnik geht, dann wird das Recht außer Kraft gesetzt, dann werden gewaltvolle Pushbacks legalisiert.

Italiens Premierministerin Meloni feierte das Ergebnis des Gipfels, die Regierungen aus Dänemark und Österreich ebenfalls. Die deutschen Grünen kritisierten den Verstoß gegen die Menschenrechte. Olaf Scholz unterzeichnete trotzdem und  sprach zufrieden von »gemeinsamen Lösungen«.

Die meisten Asylsuchenden kommen weiterhin aus Syrien, wo Krieg und eine Diktatur sie vertreiben. Die zweitgrößte Gruppe flieht aus Afghanistan — darunter immer noch Menschen, die für deutsche Institutionen arbeiteten und deshalb von den Taliban bedroht werden. Auch Mauern werden sie nicht abhalten. Das tut erst ein Schießbefehl, wie Expert*innen bereits warnen. Wo bleibt angesichts der Pläne für eine noch gewaltsamere Abschottung der Protest? Diese Frage muss sich vor allem eine Linke stellen — die jedoch scheint von den Verschärfungen des europäischen Grenzregimes wenig mitzukriegen.

Carolin Wiedemann

ist Soziologin und Journalistin. Sie schreibt vor allem über Geschlechterverhältnisse, digitalen Kapitalismus und Rechtspopulismus. Von ihr erschien zuletzt das Buch »Zart und frei. Vom Sturz des Patriarchats« im Verlag Matthes & Seitz.