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Eine Zone des Nicht-Seins

Die Wissensproduktion über Afghanistan legitimiert das Zurücklassen

Von Firoozeh Farvardin, Bahar Oghalai und Nader Talebi

Ein blonder Mann fotografiert eine afghanische Frau in einem Hof, daneben sitzt ein bewaffneter Wächter
Die Welt ist in Zonen unterteilt: eine Zone der Sicherheit, eine Zone der Gefahr - Bilder untermauern diese Einteilung. Foto eines westlichen Reisenden 2008 in Kabul. Foto: Carl Montgomery / Flickr, CC BY 2.0

Schämt euch! Ihr widert uns an«, antwortete Mahbooba Seraj, die Gründerin des Afghanischen Frauennetzwerks, kurz vor dem Fall von Kabul, in einem Interview mit dem türkischen regierungsnahen Sender TRT auf die Frage, welche Botschaft sie für die USA, die EU und weitere internationale Akteur*innen hätte, die in den letzten 20 Jahren in Afghanistan präsent waren. Mahbooba steht mit ihrer Meinung über die westlichen Mächte, die die Macht in Afghanistan faktisch an die Taliban übergeben haben, nicht alleine da. Viele haben sich in den letzten Wochen gefragt: Wie ist so etwas im Jahr 2021 möglich? 

Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan nach 2001 wurde von der Bundesregierung lange Zeit als ein Akt der »uneingeschränkten Solidarität« mit den Vereinigten Staaten dargestellt, wie es der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder nach den Anschlägen vom 11. September 2001 formulierte. Im Nachhinein scheint es jedoch so, dass – wie damals schon Kritiker*innen anmerkten – der Einsatz der Bundeswehr dabei geholfen hat, ihr öffentliches Image aufzupolieren und sich in der geopolitischen Landschaft der Region zu positionieren: Seitdem hat sich die Bundeswehr in Afghanistan als humanitärer Arm der Bundesregierung präsentiert, der den (Wieder-)Aufbau des Landes und seiner Demokratie durch die Zusammenarbeit mit lokalen Institutionen begleitet. Vielleicht hat Deutschland auch deshalb, wie viele andere Akteur*innen auch, die Lage in Afghanistan lange Zeit viel zu optimistisch eingeschätzt. 

Diese Fehleinschätzung hat allerdings zwei strategische Vorteile für Deutschland und ist sicherlich nicht nur auf dessen politische Naivität in Bezug auf Afghanistan zurückzuführen. Es gab tatsächliche auf deutscher Seite Interessen, die Stabilität der Lage in Afghanistan zu überschätzen. 

Erstens sollte die beschönigende Bewertung der Situation die Mythen der erfolgreichen »humanitären Intervention« westlicher Länder in andere Regionen der Welt sowie des Exports von Demokratie und Menschenrechten aufrechterhalten. Während die Schattenseiten dieser Intervention, die finanziellen und zivilen Opfer, oft unter anderem der aggressiven Militärpolitik der Vereinigten Staaten angelastet wurden, übernahm Deutschland im Kontrast dazu den vorteilhaften Part eines humanitären Vermittlers von Wiederaufbau und Frieden. 

Außerdem konnte diese optimistische Darstellung als Rechtfertigung für die deutsche Migrationspolitik gegenüber afghanischen Geflüchteten eingesetzt werden. Die Lage in Afghanistan wurde als sicher genug für die Menschen dort eingeschätzt, so dass es keinen Grund für sie geben sollte, das Land Richtung Europa zu verlassen, um dort Asyl zu beantragen. Im Jahr 2016 setze die EU mit der damaligen afghanischen Regierung ein Abkommen mit dem Titel »Joint Way Forward« durch, das die Abschiebung von Personen mit abgelehntem Asylantrag nach Afghanistan fördern und vereinfachen sollte. Laut dem Mediendienst Integration sind seit 2016 10.000 afghanische Asylbewerber*innen direkt nach Afghanistan abgeschoben worden. 

Das humanitäre Framing

Das oben erwähnte humanitäre Framing der Rolle Deutschlands rechtfertigt aber nicht nur die Außen- und Migrationspolitik, sondern trägt auch direkt zu unserem Verständnis von Afghanistan und dem Schicksal seiner Bevölkerung bei. Das zentrale Thema von Judith Butlers Buch »Frames of War: When is life grievable?« ist die Frage, wie die diskursive Rahmung bzw. Repräsentation der von den USA geführten Kriege, der Kriege gegen den Terror, (re)produziert wurde und folglich die Art und Weise geprägt hat, wie wir die Opfer dieser Konflikte wahrnehmen. Das Gleiche gilt für die Darstellung des Engagements Deutschlands in den Kriegen im sogenannten Nahen Osten. 

Dieses humanitäre Framing beinhaltet notwendigerweise eine bestimmte Form von Wissensproduktion über Afghanistan und dessen Bevölkerung. Die global dominante Form der Wissensproduktion über Afghanistan stellt das Land und dessen Bevölkerung, trotz geostrategischer Bedeutung, als Leerstelle dar; eine Leerstelle ohne Nation, ohne Staat, ohne Menschen. 

Es ist daher nicht verwunderlich, dass Afghanistan weltweit in der Öffentlichkeit als ein Nationalstaat dargestellt wird, der mit oder ohne ausländische Interventionen unweigerlich zum Scheitern verurteilt sei. In ihrem bahnbrechenden Werk »Imagining Afghanistan: The History and Politics of Imperial Knowledge« betont Nivi Manchanda die Darstellung der Mangelhaftigkeit und argumentiert, dass die historische Präsentation Afghanistans als ein Land des Scheiterns und des Krieges in der Tat den Weg für dessen Invasion und Bombardierung geebnet hat. Das Gleiche gilt nun für das Verständnis des Abzuges der Nato und der Bundeswehr aus Afghanistan, ohne die Folgen für die Menschen dort zu bedenken: Dabei entsteht der Eindruck, Afghanistan sei zum Leiden und Scheitern verurteilt, mit oder ohne die Präsenz westlicher Mächte. Afghanistan sei somit lediglich eine Geografie des Scheiterns, die die »zivilisierte Welt« vermeiden sollte.

Es entsteht der Eindruck, Afghanistan sei zum Leiden und Scheitern verurteilt, mit oder ohne Präsenz westlicher Mächte.

Traurigerweise wird dasselbe Verständnis gelegentlich von der so genannten progressiven und antiimperialistischen Front im Westen angenommen, wo die Krise in Afghanistan auf eine humanitäre Krise reduziert und daher lediglich die Evakuierung der Nato-Truppen und die Gewährung von Asyl für besonders gefährdete Gruppen wie ethnische Minderheiten, die LSBTIQ*-Community, feministische Aktivist*innen, Sportler*innen usw. gefordert werden. 

Sicherlich ist humanitäre Hilfe und Unterstützung für die Menschen in Afghanistan dringend erforderlich. Dies sollte jedoch nicht der abschließende Schritt oder die finale politische Forderung sein. Denn die Lage in Afghanistan entspringt nicht nur einem humanitären Versagen, sondern ist auch ein politisches Problem, das eine politische Lösung erfordert, die sich nicht auf humanitäre Hilfe reduzieren lässt. Trotzdem tendiert die vorherrschende eurozentrische Sichtweise dazu, diese Katastrophe als eine Herausforderung für das europäische Migrations- und Sicherheitsregime darzustellen. Die wichtigsten Fragen in diesem Zusammenhang lauten nach wie vor: Wird uns das hier in Europa betreffen, und wie können wir die »Festung Europa« schützen? 

Europa ohne Scham ist ein koloniales Europa

In diesem Sinne ist die Welt unterteilt in eine Zone der Sicherheit (Fanon würde sie als eine »Zone des Seins« bezeichnen), die es zu schützen gilt, und jene der Gefahr (die »Zone des Nicht-Seins« in Fanons Worten), die von Natur aus unsicher ist und sein wird. 

Sicherheit ist jedoch nie absolut, sondern stets relativ, denn Afghanistan war für deutsche Staatsbürger*innen schon immer unsicher, jedoch sicher genug, um afghanische Asylbewerber*innen dorthin abzuschieben. So wurde 2017 nach dem Bombenanschlag auf die deutsche Botschaft in Kabul lediglich ein Abschiebeflug nach Afghanistan ausgesetzt, während der damalige Innenminister Thomas de Maizière (CDU) gleichzeitig betonte, dass sich die Haltung der Bundesregierung zur Abschiebepolitik nach Afghanistan nicht ändern werde. Das ist eine neokoloniale Perspektive, derzufolge die Anderen keiner Sicherheit und Hoffnung würdig sind. 

Infolge dieser neokolonialen Perspektive auf den Schmerz und das Leiden der Anderen ist der vorherrschende europäische Ansatz ein doppelter: auf die Zukunft verschieben und/oder jenseits der Grenzen externalisieren, zum Beispiel durch Frontex und das Abkommen mit der Türkei von 2016. Zu diesem Zweck hat die EU bewiesen, dass sie bereit ist, mit jedem Diktator zusammenzuarbeiten und genau jene Menschenrechte zu vernachlässigen, die ironischerweise die Grundlage für militärische Interventionen in den globalen Süden bilden sollen. 

Auch deshalb ist es kein Wunder, dass wir nun so viel Begeisterung für die Zusammenarbeit mit den Taliban hören. Es ist nicht das erste Mal, und es wird vermutlich auch nicht das letzte Mal sein. Der Kalte Krieg ist seit langem vorbei, und anstelle der Angst vor dem Kommunismus werden neue Begründungen ins Feld geführt, die vom Wunschdenken bis zur pragmatischen Weisheit reichen. »Die Taliban haben sich verändert« oder »die Gesellschaft und die neue Generation würden die gleiche Art des Regierens nicht mehr akzeptieren«. Beides deutet auf eine einfache, lineare Vorstellung von Fortschritt hin, von der wir im sogenannten Nahen Osten schmerzlich erfahren haben, dass sie nicht wahr ist.  

Die pragmatische Rechtfertigung für die Normalisierung der Taliban – der Westen solle sich mit den Taliban einlassen, um Teile der Errungenschaften der letzten 20 Jahre zu verteidigen – ist besonders heuchlerisch, da sie das Hauptziel der Rechtfertiger*innen zu verschleiern versucht, nämlich Migrant*innen davon abzuhalten, nach Europa zu kommen. 

Was soll also nun getan werden? Vielleicht ist Mahboobas Aussage, dass wir uns alle für die Geschehnisse in Afghanistan schämen sollten, ein guter Ausgangspunkt. So wie Marx in seinem Brief an Arnold Ruge schrieb ist »Scham eine Revolution an sich«. In diesem Sinne könnte diese Scham der Ausgangspunkt für ein grundlegendes Umdenken und einen entscheidenden Wandel im Umgang des Westens, Europas und Deutschlands mit dieser und anderen Krisen im globalen Süden sein. Ein Umdenken, das nicht bestimmte Geografien ausschließt und sie als von Natur aus unsicher und unwichtig abwertet. Ein Ansatz, der auf einem Gefühl der Verbundenheit und Verantwortung aufbaut und nicht die illusionären Grenzen reproduziert, die uns auf dem Papier trennen. Denn wir brauchen nur an den Klimawandel oder die Covid-19-Pandemie zu denken, um zu erkennen, wie naiv es ist, auf der Grundlage dieser Grenzen Politik zu machen. 

Firoozeh Farvardin

ist feministische Wissenschaftlerin/Aktivistin, die sich mit Rassismus sowie Sozial- und Sexualpolitik im Nahen Osten beschäftigt.

Bahar Oghalai

ist feministische Sozialwissenschaftlerin mit einem Hauptinteresse an der Schnittstelle von Rassismuskritik und Feminismus.

Nader Talebi

ist ein in Berlin ansässiger Wissenschaftler und Aktivist, der sich mit Mobilität/Mobilisierung im Nahen Osten beschäftigt.