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Die Klärung klären

Wahlkampf kann die Linkspartei jetzt – konstruktiv streiten muss sie noch lernen

Von Jan Ole Arps

Eine große Rote Bühne mit Schriftzug "Die Linke". Vor der Bühne sind ein paar Stuhlreihen zu sehen, im Vordergrund ein Kamerateam, direkt vor dem Podium ebenfalls mehrere Fotograf*innen. Auf der Bühne spricht Heidi Reichinnek am Rednerpult
Die Linkspartei gönnte sich in Chemnitz nochmal eine große Portion Heidi-Euphorie. Doch nun richten sich alle Blicke auf ein anderes Thema: das Verhältnis der Partei zum Antisemitismus. Foto: ak

Nach außen sollte er ein Signal des Aufbruchs senden, nach innen die Mitglieder auf die neue Ära linker Opposition gegen die Merz-Regierung einschwören: der Parteitag der Linken. Im alten Chemnitzer Industriegebiet, wo zwischen imposanten, verfallenen Fabrikgebäuden die Messe steht, wollte Die Linke wieder zur sozialistischen, wahlweise auch organisierenden Klassenpartei werden. Dass im Nachgang trotzdem nur noch über Antisemitismus in der Linken diskutiert wurde, hat sich die Parteitagsorga selbst eingebrockt. Aber eins nach dem anderen.

Kurzer Recap: Hinter der Linkspartei liegen jahrelanger, zermürbender Streit mit dem Wagenknecht-Lager und eine Spaltung. Eine halbe Ewigkeit im Umfragekeller gefangen, begann erst Ende Januar, vor knapp vier Monaten, die Wende sichtbar zu werden. Nach einem außergewöhnlich mobilisierenden Wahlkampf rund um wenige soziale Kernforderungen und ein klares Bekenntnis zum Antifaschismus erreichte die Partei bei der Bundestagswahl im Februar schließlich 8,8 Prozent und schickt nun 64 – vom eigenen Erfolg zumeist ziemlich überraschte – Abgeordnete in den Bundestag. Totgesagt und wiederauferstanden, so ist das jüngste Kapitel in der Geschichte der Partei vielfach betitelt worden.

Auf dem Parteitag sollte die nächste Seite aufgeschlagen werden. »Die Hoffnung organisieren«, lautete das in Chemnitz mantraartig wiederholte Motto. Die zweite Botschaft, die das Führungsteam den Delegierten wieder und wieder einhämmerte: Streiten ja, aber bitte mit Respekt und »revolutionärer Freundlichkeit«. Von liebgewonnenen Rezepten aus dem Wahlkampf wurde ebenfalls ausgiebig Gebrauch gemacht: Musik, tänzelndes Spitzenpersonal, demonstrativ gute Laune, Klassenkampfaufrufe und mobilisierende Reden der Vorsitzenden von Partei und Fraktion: Ines Schwerdtner, Jan van Aken, Sören Pellmann und Heidi Reichinnek.

Die Herausforderung, vor der die Partei steht, ist nicht gerade klein: Sie muss sich neu definieren, und das bei verdoppelter Mitgliederzahl. Darüber, was den seit Jahresbeginn hinzugekommenen 50.000 Neuen besonders wichtig ist, wie sie in zentralen Streitfragen – Krieg und Frieden in der Ukraine etwa oder der Nahostkonflikt – ticken, kann bisher nur spekuliert werden. In Chemnitz waren sie noch nicht als Delegierte vertreten, der Parteitag spiegelte also eher Debattenlagen wider, die es bereits vor der faktischen Neugründung der Linken gab. Wen oder was bisherige Positionen, Strömungen und Kompromisse noch repräsentieren, ist höchst ungewiss.

Für das Zusammenkommen in Chemnitz hatte sich die Parteiführung überlegt, dass am ersten Tag über die politischen Leitlinien für die nächste Zeit gesprochen, am zweiten Tag neben notwendigen Formalien noch ein paar inhaltliche Anträge abgehakt werden sollten. Dazwischen wurden Auftritte des Führungsquartetts eingestreut, um die zentrale Message in die Öffentlichkeit zu bringen: Wir leisten Widerstand gegen die schwarz-rote Koalition der Kaltherzigkeit, die den AfD-Faschist*innen den Boden bereitet. Gegen die Angriffe der Merz-Millionäre stehen wir an der Seite der arbeitenden Klasse und lassen uns nicht spalten: Unten gegen oben statt Deutsche gegen Migrant*innen. »Niemals allein, immer gemeinsam.«

Wen oder was bisherige Positionen, Strömungen und Kompromisse in der Linken noch repräsentieren, ist höchst ungewiss.

Schon hier hätte einiges schief gehen können. Wenige Tage vor der Zusammenkunft in Chemnitz hatte Merz’ missglückte Kanzlerwahl den Ablauf im Bundestag durcheinander gewirbelt. Die Linken-Abgeordneten, alle mit lila Kleidungsstücken ausgestattet, hatten sich an dem Tag eigentlich darauf eingestellt, ein optisches Statement für die Abschaffung des Paragrafen 218 zu senden, gegen Merz zu stimmen, noch eine Erklärung gegen dessen Kanzlerschaft abzugeben und dann nach Hause zu gehen. Doch dann fehlten Merz 18 Stimmen aus den Reihen der Regierungskoalition, und der neue Kanzler wurde im ersten Wahlgang nicht gewählt – ein Novum in der Geschichte der BRD. In den darauffolgenden chaotischen Stunden – sogar von drohender »Staatskrise« war die Rede – klopfte dann die CDU bei der Linkspartei an und bat, Kooperationsverbot hin oder her, einen zweiten Wahlgang noch am selben Tage möglich zu machen, um Merz rasch ins Amt zu bringen.

Die Linke machte mit. Hätte sie sich verweigert, wäre ein zweiter Wahlgang erst drei Tage später möglich gewesen. Bodo Ramelow erklärte später, man habe den Wahlgang ermöglicht, um die Demokratie zu schützen. Die Demokratie zu schützen? Ein paar Tage ohne Merz als Kanzler wären wohl noch nicht das Ende der Demokratie gewesen. Sicher, die AfD hätte diese Tage genutzt, um die CDU vor sich herzutreiben – das verhindert zu haben, war das zweite Argument, mit dem Linken-Abgeordnete ihr Ja zur Wahlwiederholung begründeten. Aber hätte nicht auch Die Linke in diesen Tagen Merz als angeschlagenen Kanzler der Millionäre attackieren können, wie sie es ja ohnehin vorhat? Sie entschied sich für »staatspolitische Verantwortung«. Handshake-Bilder von Heidi Reichinnek und Friedrich Merz, von Gregor Gysi und Julia Klöckner kursieren von diesem denkwürdigen Tag.

Auch in der Linkspartei und ihrem Umfeld gab es kritische Fragen dazu, ob dieses Vorgehen nicht an der Glaubwürdigkeit als entschiedene sozialistische Anti-Merz-Opposition kratze und ob die mögliche Aufweichung des Zusammenarbeitsverbots der CDU mit der Linken das wert gewesen war. Sören Pellmann, Co-Fraktionsvorsitzender der Linken im Bundestag, kam in seiner Rede in Chemnitz noch einmal auf die Abstimmung zu sprechen: »Wie demütig CDU und CSU, die uns sonst nicht mit dem Arsch angucken, auf die Linke zugegangen sind und gesagt haben, wir müssen reden – das gab’s bisher noch nicht.« Dann lobte er die »starke Performance« der Fraktion an diesem Tag und »wie wir auch der Union klargemacht haben, dass das nichts ist, was wir mal so nebenbei machen«. Wie genau »wir das der Union klargemacht« haben, ob die etwas dafür tun musste, außer »demütig« um die Ecke zu kommen – unklar.

Friede, Freude, Antragsberatung

Zu einer offenen Kontroverse führte diese Frage in Chemnitz allerdings nicht. Dafür zeichnete sich eine andere bereits im Vorfeld ab. Nach einem Social-Media-Post der Linken-Politikerin Ulrike Eifler, die ein Bild mit den Umrissen von Israel, Gaza und der Westbank mit Symbolen in den Farben der palästinensischen Flagge zeigt, hatte der Parteivorstand sich kurz vor Beginn des Parteitags in einer Erklärung von Aufrufen »zur Auslöschung Israels« unter dem »Deckmantel der Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung« distanziert und zum Existenzrecht Israels bekannt. Das kam nicht bei allen gut an. Nicht wenige Delegierte waren auf dem Parteitag mit Palitüchern oder anderen Symbolen der Solidarität mit Palästina unterwegs. Angesichts der verheerenden israelischen Kriegsführung und der neuen Pläne, Gaza dauerhaft zu besetzen und die palästinensische Bevölkerung ganz oder großteils zu vertreiben, sehen sie eher die Existenz Gazas bedroht.

Der Parteitag war seit der Wahl die erste Gelegenheit, eine Verständigung über kontroverse Fragen zu beginnen, etwa darüber, wie scharf die Opposition gegen die neue Regierung denn sein soll, oder wie Friedenspolitik in einer von immer mehr imperialistischen Ambitionen durchzogenen Welt aussehen kann. Was Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung in Gaza, der Westbank oder auch innerhalb Israels bedeutet, gehört auch zu diesen Fragen.

Doch Disput wurde in Antragsverhandlungen hinter den Kulissen verlagert, um öffentlichen scharfen Streit zu vermeiden und kontroverse Anträge in möglichst konsensfähige umzumodeln. Im Saal gab es entweder großteils nicht aufeinander bezogene persönliche Erklärungen, etwa in der »Generaldebatte«, oder themenbezogene Anträge mit Gegenrede und Fürrede; pro Antrag drei Minuten.

Über weite Strecken gelang es damit tatsächlich, das im Wahlkampf gezeichnete und bewährte Bild einer einigen Partei zu zeigen: Am Leitantrag gab es kaum Änderungen, beim Thema Friedenspolitik, der einzigen echten Themendebatte (30 Minuten waren dafür eingeplant), setzte sich schließlich der zuvor verhandelte Kompromissvorschlag mit dem Titel »Ohne Wenn und Aber: Sage Nein zu Aufrüstung und Kriegstüchtigkeit« durch. Auch wenn einige Wortmeldungen kritisierten, dass die russische Aggression gegen die Ukraine darin nicht benannt wurde und man den veränderten globalen Konkurrenzverhältnissen nicht Rechnung trage – eine Delegierte sprach von »Realitätsverweigerung« –, am Ende erhielt der Antrag, der antimilitaristische Prinzipien untermauert, eine deutliche Mehrheit.

Dass es durchaus Diskussionsbedarf unter den Delegierten gab, zeigte sich am zweiten Tag: Da reichte der Appell zum internen Frieden noch einmal gerade so, um einen echten Eklat zu verhindern. Aus dem Jugendverband solid und dem Studierendenverband SDS kam ein Antrag, der die linken Minister*innen und Senator*innen aus Bremen und Mecklenburg-Vorpommern, die dem Sondervermögen Infrastruktur und der Aufhebung der Schuldenbremse für Rüstung im Bundesrat zugestimmt hatten, zum Rücktritt aufforderte. Die Co-Vorsitzende Ines Schwerdtner hielt dagegen: Auch sie fände das Abstimmungsverhalten falsch, aber bitte darum, kein Exempel an Einzelnen zu statuieren. Vor allem der Hinweis, dass ein Verfahren beschlossen worden sei, damit so etwas nicht wieder passieren kann, überzeugte am Ende wohl genug Delegierte. Der Antrag wurde abgelehnt – aber knapp.

Grenzen der Parteitagsdiplomatie

Die meisten potenziellen Konflikte moderierte die Parteiführung mit ihrer intensiven Diplomatie im Hintergrund erfolgreich ab. Zum Krieg in Gaza, zu dem mehrere Anträge vorlagen, verhandelte sie bis zur letzten Minute eine Kompromissversion, die sich gegen die israelischen Besetzungspläne, das Aushungern und die Vertreibung der Zivilbevölkerung in Gaza wendet und ganz, ganz spät am Samstag, als quasi letzter Akt, verabschiedet werden sollte – und mit großer Mehrheit wurde. Dann aber, als Nachklapp zum Nachklapp sozusagen, geriet die Choreographie der Geschlossenheit doch noch durcheinander. Eine Mehrheit der Delegierten erzwang per Geschäftsordnungsantrag, dass auch über die Antisemitismusdefinition, mit der die Partei arbeitet, noch abgestimmt wurde. Von dem Vorschlag, die Auseinandersetzung abermals zu vertagen, fühlten sie sich wohl nicht ernst genommen. Gegen den Wunsch der Vorsitzenden – Jan van Aken hielt die Gegenrede – beschloss eine knappe Mehrheit dann, dass sich Die Linke fortan an der Jerusalemer Erklärung (JDA) orientieren solle; die IHRA-Definition, die unter anderem der Bundestag verwendet, wird als Einfallstor für autoritäres, staatliches Handeln abgelehnt. Eine Diskussion über IHRA und JDA, über Kampf gegen Antisemitismus und Repression gegen Palästina-Solidarität, ging diesem Beschluss, der seitdem die öffentliche Rezeption von »Chemnitz« völlig dominiert, nicht voraus. Über den Antrag wurde ebenfalls nur wenige Minuten beraten, dann war der Parteitag auch zu Ende.

Jan van Aken bemühte sich in der Nachlese zunächst um Gelassenheit: »Das ist Demokratie und geht in Ordnung, auch wenn ich mir eher Debatte als eine Abstimmung gewünscht hätte.« Genau diese Debatte nicht ermöglicht zu haben, war der wohl schwerste Fehler in der Ausrichtung des Parteitags. Und er verweist möglicherweise auf ein größeres Problem. Inhaltliche Differenzen mit Formelkompromissen zuzukleistern, das ist für Die Linke schon einmal ziemlich schief gegangen. Im Konflikt mit dem Wagenknecht-Lager war die Kehrseite öffentlich ausgetragener, nicht enden wollender destruktiver Streit.

Die selbst losgetretene Debatte über Antisemitismus vorbeiziehen zu lassen, wäre nicht gerade wegweisend dafür, wie innerparteiliche Demokratie, aber auch die Kommunikation mit der breiteren Öffentlichkeit funktionieren kann.

Momentan macht Die Linke den Eindruck, als wolle sie durchziehen, was im Wahlkampf ihr Erfolgsrezept war: Bei den eigenen Themen bleiben. Nach dem Motto, wenn alle über Migration reden, halten wir zwar Antirassismus hoch, sprechen aber möglichst schnell wieder über den Mietendeckel. Nur: Den Antisemitismus-Definitionsstreit hat die Partei selbst neu entfacht, wenn auch gegen den Willen der Führung.

Auf Social Media haben sich ein paar Linken-Politiker*innen nach dem Parteitag mit harscher Kritik zu Wort gemeldet. Auch der Zentralrat der Juden warf der Partei vor, nicht an der Seite der Jüdinnen und Juden in Deutschland zu stehen, Antisemitismus zu verharmlosen, teilweise »von Israelhass getrieben« zu sein. Via Bild-Zeitung forderte Zentralratspräsident Josef Schuster, keine Bündnisse mit der Linken mehr einzugehen. Andere, die israelische Linkspartei Hadash etwa oder der jüdisch-israelische Rechtswissenschaftler Itamar Mann, stellten sich hinter Die Linke; Mann lobte die Entscheidung gar als »entscheidenden Schritt zum Schutz des jüdischen Pluralismus in Deutschland«. Ähnlich argumentiert eine Erklärung von 55 mehrheitlich jüdischen Wissenschaftler*innen. Gil Shohat, Leiter der Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv (und ak-Autor), kritisierte in einem Instagram-Post die Äußerungen Schusters als »Schmutzkampagne«. Von der Linken wünsche er sich, nun die vorher verpasste Debatte nachzuholen – unter Einbeziehung jüdischer Communities und Wissenschaftler*innen.

Ein Vorschlag, mit dem man arbeiten könnte. Die selbst losgetretene Debatte vorbeiziehen zu lassen, als bekomme man nur Stöckchen von anderen hingehalten, wäre dagegen nicht gerade wegweisend dafür, wie künftig innerparteiliche Demokratie, aber auch die Kommunikation mit der breiteren Öffentlichkeit funktionieren kann. Revolutionäre Freundlichkeit, schunkelnde Vorsitzende und betont fröhliche Einigkeit hin oder her – solidarisch zu streiten, auch offen, nicht nur in Antragsverhandlungen hinter verschlossenen Türen, das muss die neue Linkspartei wohl noch lernen.