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Deutsche Staatsräson

Dringende Warnung vor einem ebenso vagen wie gefährlichen Kampfbegriff

Von Jens Renner

Eine klobiges Denkmal in der Nacht, an den Außenwänden des Quaders Plastiken marschierenden Soldaten
Marschieren nicht fragen: Der Begriff kommt aus einer autoritären Tradition. Foto: Nordmännchen / Flickr, CC BY-SA 2.0

Der Knaur, das fünfzehnbändige Universallexikon (München 1992), widmet dem Stichwort genau viereinhalb Zeilen: »Staatsräson, auf N. Machiavelli zurückgehende, im Absolutismus herrschende Lehre, dass dem staatlichen Interesse jedes andere unterzuordnen sei.« Nach Ansicht der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) gilt die dürre Definition auch heute noch: »Das Prinzip der Staatsräson hatte in früheren Jahrhunderten, als noch Könige und Fürsten über die Staaten herrschten, große Bedeutung. Es besagte, dass die Interessen des Staates über alle anderen Interessen gestellt wurden. Wenn die Staatsmacht der Ansicht war, dass es dem Interesse des Staates dienen würde, konnten Gesetze aufgehoben und sogar die Rechte der einzelnen Menschen missachtet werden. Der Staat stand über allem.«

So steht es in dem von der Bundeszentrale verbreiteten jungen Lexikon Politik, das sich speziell an Heranwachsende wendet. Hinzugefügt wird dort allerdings, dass die so beschriebene Staatsräson in demokratischen Staaten »keine Rolle mehr« spiele. Ausnahme: terroristische Aktionen wie Flugzeugentführungen oder Geiselnahmen. Dann würden »viele Menschen« sagen: »Die Staatsräson verlangt, auf die Forderungen nicht einzugehen, weil ein Staat nicht erpressbar sein darf.« (bpb 2024)

Israels Sicherheit garantieren – aber wie?

Offensichtlich gibt es zwischen Machiavellis Freibrief für staatliche Willkür und der Ausnahmeregelung der deutschen Bildungszentrale einigen Spielraum. Gefüllt wird er üblicherweise allerdings nicht mit alternativen Definitionen, sondern mit Beispielen für die Anwendung des Prinzips Staatsräson. Seit vielen Jahren geht es dabei in der öffentlichen Debatte vor allem um eine deutsche Garantie für die Sicherheit Israels. In seinem Essay »Gesicherte Existenz Israels – Teil der deutschen Staatsräson« schrieb der damalige deutsche Botschafter in Tel Aviv, Rudolf Dreßler (SPD): »Die gesicherte Existenz Israels liegt im nationalen Interesse Deutschlands, ist somit Teil unserer Staatsräson.«

Aus Adenauers Sicht handelte es sich bei der »Wiedergutmachung« um eine lohnende Zukunftsinvestition.

Das war im April 2005. Internationale Beachtung fand dieser Gedanke erst knapp drei Jahre später, nach dem 18. März 2008, als Angela Merkel sich vor der Knesset zur deutschen Verantwortung für Israel bekannte: »Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.« Diese Garantieerklärung wiederholte sie noch einmal bei ihrem Abschiedsbesuch in Israel im Oktober 2021: »… die Sicherheit Israels ist Teil unserer Staatsräson, und demnach müssen wir auch handeln, selbst wenn wir unterschiedlicher Meinung in verschiedenen Einzelfragen sind.«

In seiner Regierungserklärung nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 wandelte Olaf Scholz Merkels Bekenntnis noch einmal leicht ab: »In diesem Moment gibt es für Deutschland nur einen Platz. Den Platz an der Seite Israels. Das meinen wir, wenn wir sagen: Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson.« Welche Hilfeleistungen – über die seit Jahrzehnten gängigen Waffenlieferungen hinaus – das im Fall existenzieller Bedrohung Israels einschließen würde, sagte er nicht.

Finanzielle Unterstützung durch die Bundesrepublik Deutschland erhält Israel seit der 1949 begonnenen Kanzlerschaft Konrad Adenauers (CDU). Dafür wurde der zynische Begriff der »Wiedergutmachung« erfunden – eine Art Entschädigung für die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden durch das Deutsche Reich, dessen Rechtsnachfolge die BRD mit ihrer Gründung im Jahr 1949 antrat. Aus Adenauers Sicht handelte es sich bei der »Wiedergutmachung« um eine lohnende Zukunftsinvestition. Denn, so der bundesdeutsche Regierungschef: »Die Macht der Juden, auch heute noch, insbesondere in Amerika, sollte man nicht unterschätzen.« Subtext: Mit denen stellt man sich besser gut.

Gysi lernt von Clausewitz

Das Wort Staatsräson verwendete Adenauer damals nicht. Erst nach Merkels Knesset-Rede hatte  es wieder Konjunktur – auch in Teilen der Linken. Knapp vier Wochen nach der christdemokratischen Kanzlerin war es der Vorsitzende der Linksfraktion, Gregor Gysi, der mit seinem Bekenntnis zur deutschen Staatsräson eine grundlegende außenpolitische Umorientierung seiner Partei einleiten wollte. Auf der Veranstaltung »60 Jahre Israel« der Rosa-Luxemburg-Stiftung sprach er am 14. April 2008 über »die Haltung der deutschen Linken zum Staat Israel«, so der Titel seines Vortrags. Gysis erklärtes Ziel war es, Klarheit zu schaffen, »was es für uns bedeutet, etwa in einer Bundesregierung mitzuwirken«. Mehr als zwei von 16 Seiten seines Manuskripts widmete Gysi der Frage, »was wir von Clausewitz über Krieg und Frieden lernen können«; der preußische General Carl von Clausewitz (1780-1831) prägte u.a. die Merksätze »Krieg ist die bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« und »Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.«

Noch ausführlicher behandelte Gysi das Thema Staatsräson, ausgehend von Rudolf Dreßlers Satz über Israels Sicherheit, den er zustimmend zitierte. Die Linke, so Gysi, müsse jeweils entscheiden, »wo sich die Staatsräson als vernünftig und akzeptabel darstellt, wo sich etwas verschieben oder aufgeben lässt, wo sie einfach hingenommen werden muss.« Im vorliegenden Fall schien ihm das unproblematisch: »Aber das Verhältnis Deutschlands zum Staat Israel kann mit dem Stichwort  ›Solidarität mit Israel gekennzeichnet werden und hat auch den Status einer Staatsräson.«

Trotz seines großzügigen Angebots einer an deutschen Machtinteressen orientierten gemeinsamen Außen- und Militärpolitik scheiterte Gysis Versuch, auf den Ideen von Machiavelli und Clausewitz eine rot-rot-grüne Regierungskoalition aufzubauen. Als es dafür 2013 eine parlamentarische Mehrheit gab, zog die SPD es vor, zum insgesamt dritten Mal als Juniorpartnerin der CDU/CSU in eine große Koalition einzutreten. Offenbar schien ihr der seit Jahrzehnten über jeden Zweifel erhabene christliche Militarismus verlässlicher als Gysis neue – und in der Linkspartei nicht unumstrittene – geopolitische Vision, die ja genauso vage war wie die meisten anderen Reden von deutscher Staatsräson.

Staatsräson in Zeiten neuer »Kriegstüchtigkeit«

An der Schwammigkeit der Bekenntnisse hat sich bis heute nichts geändert. In einem Entschließungsantrag vom 7. November 2023, genau einen Monat nach dem Überfall der Hamas auf Israel, bekräftigten die Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP lediglich, dass Israel und seine Sicherheit »deutsche Staatsräson und Leitmotiv unseres Handelns« blieben. Worin dieses Handeln im äußersten Fall bestehen könnte, ließen sie offen.

Kurz darauf, am 30. November 2023, formulierte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags, der für Handlungsvorschläge nicht zuständig ist, in einem 23 Seiten langen Gutachten auffallend kritische Einwände. »In der heutigen wissenschaftlichen Literatur sind der Nutzen und der analytische Wert des Begriffs Staatsräson umstritten«, heißt es da. Und weiter: »In der liberalen und naturrechtlichen Denktradition steht die Idee der Staatsräson darüber hinaus im Gegensatz zur Idee des Rechts und des Rechtsstaats. (…) Im Grundgesetz hat die Idee der Staatsräson als wertfrei auf Machterhalt und Machterweiterung fokussiertes Konzept keinen Platz.«

Statt dessen liest man in Artikel 25 GG: »Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Bundesrechts. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebiets« – und insbesondere natürlich für die Regierung und die anderen staatlichen Organe. Nicht zufällig verbietet der folgende Artikel 26 die Vorbereitung eines Angriffskriegs. Folgen hatte das bislang allerdings nicht – siehe die Kriege gegen Jugoslawien und Afghanistan, an denen Deutschland direkt beteiligt war, ohne dass die dafür verantwortlichen Politiker*innen wenigstens im Nachhinein zur Rechenschaft gezogen worden wären. Offensichtlich hatten in diesen Fällen Völkerrecht und Verfassung hinter der Staatsräson zurückzustehen.

Für die nahe Zukunft bedeutet das nichts Gutes. In den aktuellen Reden der um deutsche »Kriegstüchtigkeit« besorgten Politiker*innen klingt die Berufung auf die Staatsräson noch ähnlich floskelhaft wie die parteiübergreifenden Bekenntnisse zu europäischen »Werten« oder ethischem »Universalismus«. Worauf die Parole letztlich hinauslaufen kann, wenn sie wirklich zur Handlungsmaxime wird, zeigt anschaulich der berüchtigte »Kriegsklotz« am Hamburger Dammtorbahnhof, das 1936 eingeweihte militaristische Denkmal mit der perversen Inschrift »Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben müssen«.

Jens Renner

war bis 2020 ak-Redakteur.