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»Das Urteil ist katastrophal«

Caro Keller von NSU-Watch über den Richterspruch gegen den Mörder von Walter Lübcke, die Neonazi-Szene in Kassel und die verhinderte Aufklärung rechten Terrors

Interview: Johannes Tesfai

Antifaschistische Forderungen dieser Tage: Aufklärung und Erinnerung sowie die Entwaffnung von Rassisten. Foto: NSU-Watch

Der Mord an Walter Lübcke zeigt eine ungebrochene Kontinuität des rechten Terrors in Kassel. Schon mit dem NSU-Mord an Halit Yozgat war klar, dass es in Kassel Strukturen gibt, die bewaffnete Naziangriffe unterstützen oder befürworten. Mit dem Urteil wurde eine weitere Chance vertan, diesen Terror zu stoppen.

Der Haupttäter Stephan Ernst hat lebenslange Haft bekommen. Der Mitangeklagte Markus Hartmann wurde aber vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord freigesprochen. Wie bewertest du das Urteil?

Caro Keller: Das Gericht hat die beiden Fälle, nämlich den Angriff auf Ahmed I. am 6. Januar 2016 und den Mord an Walter Lübcke am 1. Juni 2019, nicht angemessen bewertet. Stephan Ernst ist zwar zu lebenslanger Haft mit besonderer Schwere der Schuld und unter Vorbehalt einer Sicherungsverwahrung verurteilt worden, aber das reicht nicht. Ernst wurde für den Mordversuch an Ahmed I. freigesprochen, obwohl während des Prozesses viele Beweise gegen ihn auf dem Tisch lagen. Wir wissen, dass er in den Tagen nach der sogenannten Kölner Silvesternacht sehr aufgebracht war, darüber hat er sich mit seiner Mutter ausgetauscht. Er war am 6. Januar draußen und hat Menschen rassistisch angepöbelt, so hat er es selbst zugegeben. Diese Geschichte dürfte eine Tarnerzählung sein. Schließlich wurde Ahmed I. an diesem Tag niedergestochen. Bei Stephan Ernst wurde 2019, nach dem Mord an Walter Lübcke, ein Messer mit den DNA-Spuren gefunden, die zu Ahmed I. passen. Eigentlich eine erdrückende Beweislage, aber das Gericht hat das nicht so bewertet. Das ist für Ahmed I. katastrophal. Für die Familie Lübcke ist es ebenfalls ein verheerendes Urteil, weil der zweite Angeklagte Markus Hartmann von der Beihilfe freigesprochen wurde. Der Familie war wichtig, dass er als Mittäter verurteilt wird. Am Ende bleibt wieder einmal ein »Einzeltäter«, dessen Umfeld nicht beleuchtet wurde, dessen Motive auch noch unzureichend analysiert wurden. Letztlich ist in diesem Prozess nicht einmal geklärt worden, was am Tatort passiert ist.

Caro Keller

ist Teil des bundesweiten antifaschistischen Bündnisses »NSU-Watch«, das seit 2012 die Aufarbeitung des NSU-Komplexes kritisch begleitet. Das Bündnis wird von rund einem Dutzend antifaschistischer und antirassistischer Gruppen und Einzelpersonen aus dem ganzen Bundesgebiet getragen. Auf der Webseite www.nsu-watch.de findet man neben vielen Informationen über die extreme Rechte und Rassismus auch aktuelle Prozessberichte über den Prozess zum Mord an Walter Lübcke und zum Angriff auf Ahmed I. sowie Berichte über den Prozess zum antisemitischen und rassistischen Anschlag in Halle. 2020 veröffentlichte NSU-Watch das Buch »Aufklären und Einmischen. Der NSU-Komplex und der Münchener Prozess.«

Wie hat das Gericht den Freispruch von Hartmann begründet?

Nur für Ernst gibt es klare Beweise, dass er beim Mord an Walter Lübcke vor Ort war, denn von ihm wurden DNA-Spuren am Tatort gefunden. Alles andere hätte richtig ermittelt werden müssen und da hat die Anklagebehörde einfach unzureichend gearbeitet. Stichwort Beweismittelsicherung: Im Prozess kam heraus, dass der WLAN-Router von Markus Hartmann bei der Hausdurchsuchung nicht beschlagnahmt wurde. Wenn solche Beweismittel fehlen, fällt es dem Gericht leicht, zu glauben, Hartmann wäre nicht direkt beteiligt gewesen.

Womit erklärst du den Unwillen, die Anklage breiter aufzustellen? Das Gericht hat ja gar nicht erst versucht, Hintermänner oder Netzwerkstrukturen aufzudecken.

Das fragen wir uns natürlich auch die ganze Zeit. Nach dem Mord an Lübcke wäre zumindest zu erwarten gewesen, dass die Neonazi-Szene in Kassel komplett durchleuchtet und entwaffnet wird. Es wurde letztlich nicht versucht herauszufinden, was wirklich an dem Tattag passiert ist. Denn nach dem Geständnis von Ernst sind die Ermittlungen nach unserem Eindruck weitestgehend eingestellt worden. Wir wissen, dass der Verfassungsschutz in Kassel noch aktive V-Leute hat, vielleicht ist das ein Grund für die schwache Anklage. Wenn man den Mordfall rekonstruieren will, müssten die letzten 30 Jahre aufgearbeitet werden. Da würde man auch auf viel Behördenversagen stoßen, nicht zuletzt im NSU-Komplex. Das möchten die Behörden offenbar nicht, und das ist fatal.

Kassel hat eine militante und aktive Neonazi-Szene. Hast du eine Einschätzung darüber, welchen Bezug die Szene zum Mord an Walter Lübcke und den Anschlag auf Ahmed I. hat?

Den Bezug der Szene zum Mord an Lübcke können wir nur schlaglichtartig betrachten. Wir wissen, dass es in Kassel ein rechtes Milieu gibt, das jederzeit bereit ist, rechte Terrortaten zu unterstützen. Wir wissen auch, dass sich Stephan Ernst in einem bestimmten Umfeld bewegt hat, auf seiner Arbeit, im Schützenverein und natürlich auch auf AfD-Demonstrationen und AfD-Stammtischen. In diesem Umfeld war es einfach normal, sich rassistisch zu äußern. Dort konnte sich Ernst permanent Rückendeckung holen, aber auch Leute rekrutieren. Ernst hat im Pausenraum bei der Arbeit die rechten Zeitungen Compact und Junge Freiheit an Kollegen verteilt. Was die konkrete Neonazi-Szene angeht: Man konnte nach dem Mord an Walter Lübcke sehen, wer sich mit dem Täter solidarisch erklärt hat. Das waren Mike S. und Christian Wenzel, die wir schon aus der Neonazi-Szene und dem NSU-Komplex kennen. Mike S. hat sich auf Facebook solidarisch mit Stephan Ernst gezeigt und Christian Wenzel hat ihm ins Gefängnis geschrieben. Da zeigt sich die Kontinuität eines rechten Netzwerks, das wahrscheinlich vom Mord an Walter Lübcke bis zum Mord an Halit Yozgat und darüber hinaus reicht. Der harte Kern dieser Szene sind 30 bis 40 Personen in Kassel. Ein überschaubarer Personenkreis, der völlig unproblematisch hätte durchleuchtet werden können, aber man hat sich entschieden, dies nicht zu tun. Das kennen wir schon von der Nicht-Aufklärung des Mordes an Halit Yozgat. Wir wissen zwar, dass es der NSU war, aber warum war eigentlich V-Mann-Führer Andreas Temme am Tatort? Wie steckt die Neonazi-Szene mit drin? Wer gehört zum Unterstützungsnetzwerk? Durch diese Nicht-Aufklärung bleibt die Gefahr rechten Terrors. Konkret wurde das auch in diesem Prozess sichtbar: Wäre der Angriff auf Ahmed I. aufgeklärt worden, hätte Stephan Ernst zum Zeitpunkt des Mordes an Walter Lübcke im Gefängnis gesessen. Das heißt, mit der Aufklärung hat man das Instrument in der Hand, um rechten Terror zu stoppen, aber das wird nicht genutzt. Das ist ein großes Problem.

Mit dem Mord an Halit Yozgat in Kassel, ist bekannt geworden, wie nah der Verfassungsschutz wahrscheinlich am NSU dran war. Welche Rolle spielte der Verfassungsschutz im Mordfall Lübcke?

Eine gewisse Nähe ist nicht zu übersehen. Hartmann wollte sich 2015 legal bewaffnen und hat sich vor Gericht einen Waffenschein erklagt. Das Gericht hat beim Verfassungsschutz nachgefragt. Die Antwort des Verfassungsschutzes lautete, dass sie keine Informationen über Hartmann hätten. Das war letztlich die Begründung dafür, weshalb Hartmann seinen Waffenschein bekommen hat. Später stellte sich heraus, dass der Verfassungsschutz doch Informationen über Markus Hartmann gespeichert, dies dem Gericht aber nicht mitgeteilt hatte. Da fragt man sich, warum? Das sind alles Fragen, die der kommende parlamentarische Untersuchungsausschuss in Hessen klären muss. Denn die Aufklärung ist ja glücklicherweise auch von staatlicher Seite nicht vorbei. Aber um die wichtigsten Fragen zu klären: Wofür ist das Neonazi-Netzwerk in Kassel in welcher Weise verantwortlich? Wie nah war der Verfassungsschutz da dran? Welche Rolle spielt er dabei, dass in Kassel nicht richtig ermittelt wurde? Dafür muss man die letzten 30 Jahre in den Blick nehmen. Dazu gehört aber auch der NSU-Mord an Halit Yozgat, wenn man mehr in Kassel nachforschen würde, würde man auch mehr zu diesem Mord finden. All das gehört zusammen und muss dringend aufgeklärt werden. Denn der Mord an Walter Lübcke zeigt: Wenn es keine Aufklärung gibt, bleibt diese Szene gefährlich, und es werden möglicherweise noch weitere Menschen ermordet. Stephan Ernst zum Beispiel kann man als personifizierte Kontinuität des rechten Terrors bezeichnen. Schon Ende der 1980er hat er einen rassistischen Brandanschlag begangen, war an den rassistischen Angriffen der 1990er beteiligt, war Teil der Kameradschafts-Szene in Kassel und war bis zuletzt aktiver Teil der extremen Rechten. Die Liste seiner Aktivitäten ist lang.

In Kassel wurde 2003 auf einen Antifaschisten geschossen. Die Ermittlungen liefen auch sehr unzureichend. Weißt du, ob es Bezüge zum Umfeld von Ernst gibt, und hast du eine These, warum der Fall bis heute nicht aufgeklärt wurde?

Es geht hier um mindestens zwei Fälle mit Schusswaffengebrauch in Kassel: nämlich einmal Schüsse auf einen Wagenplatz 2001 und die Schüsse auf den antifaschistischen Lehrer (1). Bei dem zweiten Fall ist es so, dass die Personendaten des Lehrers in den Aufzeichnungen von Stephan Ernst gefunden wurden. Ernst hat Anti-Antifa-Arbeit gemacht. Er hat Personen ausgespäht, aber auch die Kasseler Synagoge. Mit den Informationen wurde von ihm eine Datenbank angelegt, man könnte auch von Todeslisten sprechen. Auf der Liste fand sich auch der antifaschistische Lehrer. Wie die Staatsanwaltschaft mitteilte, wurden die Akten und das Projektil jedoch nach zehn Jahren vernichtet. Die Bewohner*innen des Wagenplatzes wurden über das Attentat auf den engagierten Lehrer 2003 weder informiert, noch wurden sie dazu vernommen. Ein Zusammenhang zwischen den beiden Vorfällen, die nur etwas über anderthalb Jahre auseinander liegen, wurde scheinbar nicht hergestellt, obwohl sich die Taten ähneln. Es hätte so viele Momente gegeben, in denen man Stephan Ernst noch vor dem Mord an Walter Lübcke hätte stoppen können. Aber das wurde einfach nicht gemacht.

Ist Kassel ein spezieller Fall, was die militante Neonazi-Szene angeht?

Besonders speziell ist die Neonazi-Szene in Kassel nicht, aber es gibt eine relativ hohe Konstanz an Personen. Es ist ein rechtes Milieu, das nicht notwendig als Kameradschaft organisiert sein muss, aber wenn es drauf ankommt, sind diese Leute bereit, sich gegenseitig zu unterstützen. Dieser feste Kern existiert schon seit Jahren, aber er wird nicht aufgelöst. Zumindest versuchen staatliche Stellen, nicht an diese unorganisierten Strukturen heranzukommen. Die Personen sind über Freundschaften oder die geteilte Ideologie miteinander verbunden, und sie sind auch bereit, Terrortaten zu unterstützen.

Johannes Tesfai

ist Redakteur bei ak.

Anmerkung:

1) Blickpunkt Kassel: Alte Fälle, neue Fragen, 25.6.2020 online unter www.nsu-watch.info.