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Wenn der Markt Aufgaben des Rechts übernimmt

Chinas Sozialkreditsystem wird häufig als Update des Überwachungsstaats kritisiert. Es steckt mehr dahinter

Von Lia Musitz

Ein Junge sitzt auf einem Stuhl und macht ein Victory-Zeichen, während eine Frau ihm die Haare schneidet
Auch die Sorge um die Eltern ist Teil des Sozialkreditsystems in China. Dieser Junge muss sich darüber noch nicht den Kopf zerbrechen. Foto: Fred Moon / Unsplash

Auf der einen Seite des Pazifiks ruft die emeritierte Harvard-Professorin Shoshana Zuboff »Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus« aus, so der deutsche Titel ihres viel diskutierten Buches. Über die andere Seite des Pazifiks wird gesagt, dass China mit der Digitalisierung den vollendeten Überwachungsstaat ausbaue. Doch das eine hat mit dem anderen zu tun.

2014 veröffentlichte der Staatsrat der Volksrepublik China, das höchste Verwaltungsorgan der chinesischen Zentralregierung, ein Regierungsprogramm zur landesweiten Einführung eines sogenannten Sozialkreditsystems bis 2020. Dieses hat die Herausbildung einer sogenannten Kredibilitätskultur zum Ziel. Wichtig ist dabei die Doppeldeutigkeit des chinesischen Begriffs für »Kredit«, der sowohl die ökonomische Bonität als auch die soziale Vertrauenswürdigkeit meint.

Seinen global wenig beachteten Anfang nahm dieses Regierungsprogramm indes bereits 2007 mit einer Richtlinie: Als damals Kreditmärkte auch in China immer mehr an Bedeutung gewannen, legte die Regierung allgemeine Standards für die Kreditprüfung fest. Öffentliche und private Finanzdienstleister müssen seither relevante Verhaltensdaten über Organisationen und Personen sammeln, speichern, evaluieren und über eine digitale Plattform einander weitergeben. Mit der Richtlinie von 2014 wurden die Prinzipien und Mechanismen des Kreditprüfungssystems auf die Beurteilung des vertrauenswürdigen Charakters von öffentlichen wie privaten Organisationen und Individuen ausgeweitet.

Seither raten und scoren neben Finanzdienstleistern auch Dienstleister der öffentlichen Verwaltung, Rechtsbehörden sowie soziale und unternehmerische Vereinigungen sogenannte Data Doubles. Auch private Unternehmen werden dazu ermutigt. Dabei gibt die eine Institution der anderen nicht die Gesamtheit der von ihr gesammelten Daten weiter. Geteilt wird das letztliche Evaluierungsergebnis über eine Organisation oder Person von der einen Institution mit der nächsten. Denn das Sozialkreditsystem zielt vor allem auf einen »gemeinsamen Disziplinierungsmechanismus« aller Institutionen ab, der nicht wie im Recht mit Freiheitsentzug, sondern mit der Verschlechterung von Marktchancen bis hin zu Marktausschluss und höheren Marktpreisen droht.

Im Unterschied zum Recht sieht das Sozialkreditsystem auch Belohnungen für regelkonformes Verhalten vor.

Die Einführung einer digitalen Plattforminfrastruktur zum Public-Private-Datenaustausch, um die Überprüfung von Gesetzestreue und Regelkonformität mit ökonomischer Kreditwürdigkeit kurzzuschließen, ist für viele ein Problem staatlicher Überwachung – vor allem in der westlichen Welt, wo das digitale Regulierungssystem als Update Chinas Überwachungsstaat gilt. Dass Chinas digitale vor allem eine marktbasierte Sozialordnung ist, die den Profit aus Überwachung sowohl erleichtert als auch lenkt, fällt in dieser Betrachtung unter den Tisch. Dabei ist es die voranschreitende globale Ökonomisierung menschlicher Alltagshandlungen und deren Manipulation, die sich hinter dem Begriff Datenwirtschaft verbirgt und den politischen Rahmen für Chinas Sozialkreditsystem liefert. Immerhin ist der Ausbau von Chinas Wettbewerbsfähigkeit in einer globalen Datenökonomie eine der gewichtigsten Begründungen der Regierung für das Sozialkreditsystem.

Rongcheng hat knapp eine Million Einwohner*innen und liegt an Chinas reicher Ostküste. Die Stadt steht im Schatten von Chinas Metropolen und ist weitgehend unbekannt. Doch Rongcheng ist seit 2016 einer der Vorreiter für die Sozialkreditprüfung mittels quantitativen Scorings von Lokalregierungen. Punktezahlen entscheiden über ein Rating in den vier Kategorien A bis D – in Anlehnung an die Praxis von Ratingagenturen. Etliche Städte nehmen sich Rongcheng zum Vorbild. In vielen liegen die Regeln für das Scoring und Rating detailliert offen. Seit 2019 sind es etwa in Rongcheng 265 Regeln, gegen die Verstöße Minuspunkte bringen, und 127, deren Einhaltung Pluspunkte für Einzelpersonen einbringen. Vergleicht man die Inhalte der sanktionierenden Regeln, zeigen sich zwei wichtige Kategorien: Zahlungsmoral und Vertragstreue, dicht gefolgt von Normen der Arbeitsethik, insbesondere von Personen im öffentlichen Dienst. Darüber hinaus sind im Regelsatz enthalten respektloses Verhalten vor Gericht und Nicht-Anerkennung eines Urteils. Letzteres wird mit hohen Minuspunkten geahndet.

Rongcheng: Vorreiter der Sozialkreditprüfung

Des Weiteren finden sich Normen zur Sorge um Eltern, zu Umweltschutz, gegen Aberglauben und eine einzige, die die ohnehin in China per Gesetz untersagte Verbreitung von »schädlichen Informationen« durch digitale Medien diszipliniert. Viele Regeln von Rongchengs Sozialkreditsystems lassen sich zwar entfernt von einem Gesetz ableiten. Die Institutionalisierung von öffentlichen Verwaltungsbehörden als de facto Gesetzgeber, die zugleich praktische Rechtsprechungs- und Bestrafungskompetenzen haben, ist jedoch bemerkenswert – genauso wie der Fokus auf Zahlungs-, Vertrags- und Arbeitsmoral.

Das Sozialkreditsystem zeichnet sich daher nicht durch die Durchsetzung zentraler staatlicher Regeln aus. Im Gegenteil, es erlaubt auf lokaler und sektoraler Ebene – wie im Kreditsektor, im Steuerwesen oder im privaten Sektor – die Ausdifferenzierung von Verhaltensregeln durch öffentliche und, im Falle von Vereinen und Unternehmen, auch durch private Akteure. Praktisch heißt das: Jede bewertende Institution entwirft ihre eigenen Regelsätze, anhand derer sie die Organisationen und Personen in ihrem lokalen oder sektoralen Handlungsbereich evaluiert. Während die Regeln nur lokal oder sektoral bindend sind, hat durch das Sozialkreditsystem ein negatives Urteil einer Institution über die Vertrauenswürdigkeit einer Organisation oder Person Allgemeingültigkeit – alle beteiligten Institutionen disziplinieren innerhalb ihrer Handlungsmöglichkeiten.

Marktanreize für Regelkonforme

Setzt beispielsweise eine Institution eine Organisation auf die schwarze Liste, so sollen deren Geschäftsführer*innen persönlich Bankkredite von Finanzdienstleistern nur noch mit vergleichsweise hohen Raten erhalten, etwaige Sozialleistungen von Sozialämtern gekürzt werden, Fluggesellschaften sie nicht mehr befördern, Steuerbehörden ihre Steuersätze erhöhen, Alibaba, Chinas Amazon, ihnen keine Preisangebote mehr machen und insbesondere öffentliche Arbeitgeber*innen sind angehalten, Jobchancen für Kreditunwürdige zu verringern.

Das Sozialkreditsystem sieht aber im Unterschied zum Recht auch Belohnungen als Anreiz für regelkonformes Verhalten vor. Dafür muss eine Organisation oder Person nicht nur von einer bewertenden Institution auf eine rote Liste gesetzt werden, es darf auch keine Schwarz-Listung durch eine andere Institution vorliegen. Das Rating Schwarz hebelt jegliche positive Evaluierung einer bewertenden Institution aus. Wird man Rot gelistet, kommt man in den Genuss von vergünstigten Preisen für Bankkredite und Waren oder gar Gratisangeboten, geringerer Steuerbelastung, erleichtertem Zugang zu Marktkonzessionen und Sozialleistungen wie erhöhten Chancen auf Arbeitsmärkten. Auf eine rote Liste kommt man aber nur schwer. Eine Studie aus dem Jahre 2019 ergab, dass es im Falle der Beijinger Lokalregierung dafür mindestens 1.500 Stunden Freiwilligendienst brauchte. In Rongcheng kann dieser Freiwilligendienst wiederum die Beteiligung der Zivilbevölkerung bei der Regeldurchsetzung bedeuten. Personen werden dort dafür belohnt, dass sie Regelverletzungen melden oder die Übeltäter*innen selbst verfolgen.

Insbesondere Finanz- und Marktakteuren kommen so Kompetenzen der Regelsetzung und Sanktionierung zu. Daher ähneln nicht nur die Verhaltensurteile des Sozialkreditsystems in Kreditakten, Ratings und Scores Urteilsformen des Marktes. Auch die Durchsetzungspraktiken der Regeln, die Disziplinierungsmechanismen, die die chinesische Gesellschaft in Zukunft ordnen sollen, haben Marktcharakter. Das ist grundsätzlich kein singulär chinesisches Phänomen. So weisen Diskurse chinesischer Jurist*innen darauf hin, dass das neue Regulierungssystem die Anpassung der Sozialordnung an die neuen globalen ökonomischen Bedingungen ermöglichen soll.

Die Ökonomisierung sozialer Kontrolle

Was ist also das Neue? Eine digitale Ökonomie, die in ihren US-amerikanischen wie chinesischen Ausformungen – Google, Amazon, Alibaba, Tencent etc. – die Tendenz zeigt, nur noch insofern mit der Produktion von Waren Gewinn zu machen, als sie deren Tauschbedingungen und Tauschbeziehungen kontrolliert. Diese Unternehmen erhalten »Vermittlungsgebühren« für den garantierten Zugang zu ihren privaten Marktplätzen, also die Plattform. Und dafür, dass sie auf dieser Markttransaktionen absichern, dass die eine Partei bezahlt, die andere liefert und oder produziert – nicht selten durch Mechanismen der Kundenarbeit wie Kundenreviews. Überdies evaluieren Alibaba, Amazon und Co. Datenspuren ihrer »Kunden«, klassifizieren deren Sozialverhalten in Gruppen und nutzen und verkaufen deren angebliche Vorhersehbarkeit und Manipulierbarkeit. Mit anderen Worten: Die Tech-Konzerne ökonomisieren die Durchsetzung von Verhaltensregeln sowie die Beurteilung von Sozialverhalten – eigentlich beides eine (ehemalige) moderne Aufgabe des Rechts.

Damit das gelingt, muss es einerseits einen Rückzug des staatlich durchgesetzten Rechts geben, damit überhaupt Marktnachfrage nach Regeldurchsetzung besteht und sich Monopole auf einem Marktplatz herausbilden können. In »unseren« Breiten nennen wir das Deregulierung. In China integriert das staatliche Sozialkreditsystem die Unternehmensseite in die formelle Normdurchsetzung. Damit andererseits auch Sozialverhalten anhand ökonomischer Wertung differenziert werden kann, muss zunächst ein allgemeingültiger sozialer Maßstab etabliert werden, der die Kommensurabilität – also Austauschbarkeit von sozialen und ökonomischen Werten – herstellt. Das Sozialkreditsystem fördert, dass bestimmtes Sozialverhalten seinen differenzierten Preis hat. Chinas Regierung erleichtert mit dem Sozialkreditsystem nicht nur die Umwandlung von sozialen in ökonomische Werte. Sie schreibt damit auch an den sozialen Normen mit, die ökonomischen Wert generieren, wie etwa Arbeitsrechte oder die persönliche Pflege von Älteren. Damit unterwirft das Sozialkreditsystem auch das Verhalten digitaler Unternehmen deren eigener Sozial-Markt-Logik.

Lia Musitz

Lia Musitz forscht und lehrt am Institute of East Asian Studies der Universität Duisburg-Essen.