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Neustart für Lula?

Der frisch gewählte brasilianische Präsident setzt auf ein Bündnis mit den Konservativen – unter schwierigen Bedingungen

Von Niklas Franzen

Knappes Rennen, aber trotzdem gewonnen: der neue alte brasilianische Präsident Lula, hier mit seinen Mitstreitern Geraldo Alckmin (links) und Fernando Haddad (Mitte) nach der Verkündung des Wahlsiegs am 30.Oktober in São Paulo. Foto: Coletivo Resistência/Flickr, Public Domain

Der heutige Tag sei ein Sieg der Demokratie, sagt Zélia Lucas Patricio. Ein Sieg der Gleichheit. Und ein Sieg für die Schwarze Bevölkerung. Patricio, 57, eine Afrobrasilianerin im weißen Blazer, ist aus dem Randgebiet auf die Avenida Paulista gekommen. Zehntausende haben sich auf der bekanntesten Straße der Megametropole versammelt. Ein Meer aus Rot, Feuerwerk kracht in der Luft, es fließen Freudentränen. Im Chor schallt es immer wieder »Olé, olé, olé, olá, Lula, Lula«. Es ist der 30. Oktober. Vor kurzem war bekannt geworden, dass der ehemalige Gewerkschaftsführer und Präsident Luiz Inácio »Lula«da Silva die Stichwahl gegen den rechtsradikalen Amtsinhaber Jair Bolsonaro gewonnen hat.

Im ganzen Land feierten Menschen, die Erleichterung war groß. Denn Bolsonaros Amtszeit war eine Katastrophe. Sein schulterzuckender Umgang mit dem Coronavirus stürzte das Land ins Pandemiechaos, wegen seiner Kahlschlagpolitik im Regenwald erntete Brasilien viel Kritik im Ausland, Korruptionsskandale kratzen an Bolsonaros Saubermann-Image. Vor allem die dramatische soziale Situation dürfte ihm das Amt gekostet haben. Zwar ist die Inflation in den vergangenen Monaten leicht zurückgegangen, und im kommenden Jahr wird mit einem zaghaften Wirtschaftswachstum gerechnet.

Doch die Verarmung hat landesweit zugenommen. Alltägliche Dinge wie Gaskanister zum Kochen sind für viele nicht mehr erschwinglich, laut Studien hungern 33 Millionen Brasilianer*innen. Bei vielen gilt Bolsonaro mittlerweile als Hassfigur schlechthin: Wenn er im Fernsehen spricht, klopfen sie aus Protest auf Kochtöpfe. Der Rechtsradikale hat alte Wunden aufgerissen, neue hinzugefügt. Brasilien wird lange brauchen, um sich von seiner Amtszeit zu erholen.

Massenbewegung mit religiösen Zügen

Deshalb ist erschreckend, dass er nicht an der Wahlurne abgestraft wurde. Zwar lag der Pöbelpräsident am Ende hinter seinem Widersacher von der Arbeiterpartei PT – doch das Ergebnis war denkbar knapp. Lula kam auf 50,90 Prozent der Stimmen, Bolsonaro auf 49,10 Prozent und damit mehr als die Meinungsforschungsinstitute vorausgesagt hatten. Etwas mehr als zwei Millionen Stimmen trennten Lula und Bolsonaro voneinander. Die Wahl hat vor allem eine Tendenz bestätigt: Brasilien ist tief gespalten, ein Riss geht durch das Land.

Bolsonaro hat es tatsächlich geschafft, eine Massenbewegung hinter sich zu scharen – und das nicht nur im Netz. Die Verehrung für ihn trägt fast schon religiöse Züge. Unmittelbar nach der Wahl gingen die »Bolsonaristas« im ganzen Land auf die Straße. Sie blockierten Autobahnen, zogen vor Militärgebäude, forderten ein Eingreifen der Streitkräfte. Eine besonders erschreckende Episode ereignete sich im südlichen Bundesstaat Santa Catarina: Den rechten Arm in die Luft gereckt, sangen Bolsonaro-Fans vor einer Kaserne die Nationalhymne, um die Streitkräfte aufzufordern, nach der Wahl »die Ordnung« wiederherzustellen. Viele von ihnen sind fest davon überzeugt, dass die Wahl gestohlen wurde. Wie in den USA hat sich in den Köpfen vieler brasilianischer Rechter der Verschwörungsmythos eines großen Betrugs eingebrannt. Das hängt auch mit dem Diskurs des Präsidenten zusammen.

Monatelang hatte Bolsonaro Lügen über das elektronische Wahlsystem verbreitet und wilde Gerüchte in die Welt gesetzt. Nach der Wahl brauchte er stolze 45 Stunden, um erstmals vor die Presse zu treten. In einer kurzen Rede bekannte sich Bolsonaro zwar zur Verfassung und ließ über seinen Stabschef verlauten, die Amtsübergabe werde eingeleitet. Er gratulierte aber weder Lula zum Wahlsieg, noch gestand er direkt seine Niederlage ein. Und er sprach auch davon, dass die Straßenblockaden seiner Anhänger*innen Folge von »Wut und einem Gefühl von Ungerechtigkeit über den Wahlprozess« seien. Seine Fans fühlten sich bestätigt.

Es gehört zum Wesenskern des Bolsonarismus, sich in einem Krieg gegen einen übermächtig scheinenden Gegner zu wähnen, in einem Kampf von epischen Ausmaßen: Eine tapfere Avantgarde gegen die Fake-News-Medien! Das Volk gegen das Establishment! Die Wahlergebnisse dürften diese Wagenburgmentalität bestätigt haben. Es ist damit zu rechnen, dass sich Teile seiner Basis weiter radikalisieren werden.

Aktive Zivilgesellschaft, kritische Medien

Doch es ist unwahrscheinlich, dass es zu einem institutionellen Bruch, oder gar einem Putsch, kommen wird. Dafür dürfte Bolsonaro und seiner Entourage schlicht die nötige Rückendeckung fehlen. Es gibt eine aktive Zivilgesellschaft in Brasilien, kritische Medien, und auch im Ausland setzen viele auf ein Ende Bolsonaros. Auch die demokratischen Institutionen funktionieren immer noch, zumindest halbwegs. Gerade der Oberste Gerichtshof weist Bolsonaro immer wieder in die Schranken. Verfassungsrichter Alexandre de Moraes nannte die rechtsradikalen Proteste der Bolsonaro-Fans »kriminell« und kündigt juristische Konsequenzen an.

Dennoch: Der Bolsonarismus ist gekommen, um zu bleiben. Das zeigt sich auch daran, dass etliche Bolsonaro nahestehende Kandidat*innen den Einzug in die Parlamente schafften. Seine Partei wird die stärkste Kraft im Abgeordnetenhaus stellen, auch in den Senat zogen viele prominente Rechte ein. Die drei größten Bundesstaaten – São Paulo, Minas Gerais und Rio de Janeiro – werden künftig von Gefolgsleuten Bolsonaros regiert. Das macht es nicht einfach für Lula, der bereits zwischen 2003 und 2011 Präsident des größten Landes Lateinamerikas war. Er wird hart um Mehrheiten kämpfen müssen und gezwungen sein, breite Koalitionen zu bilden.

Zumindest auf internationaler Bühne hat Lula die Möglichkeit, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen.

Der Politiker mit der unverkennbaren Kratzstimme hat sich viel vorgenommen. Er wolle das tief gespaltene Land wieder einen, den Hunger beseitigen und die Bekämpfung der Umweltzerstörung zu einer Priorität seiner künftigen Regierung machen. Wie genau er das machen will, verriet er aber kaum. Oft blieb er schwammig, sprach viel über die Vergangenheit, klang fast schon nostalgisch.

Im Wahlkampf bewegte er sich politisch deutlich gen Mitte. Er schmiedete ein breites Bündnis, auch mit konservativen Kräften. So machte er den konservativen Ex-Gouverneur von São Paulo zum Vizepräsidentschaftskandidat. In Interviews erklärte er, gegen Abtreibungen zu sein und polemisierte gegen Unisex-Toiletten – ein klares Signal an die konservative, evangelikale Wähler*innenschaft. Andererseits bezog er soziale Bewegungen in Debatten ein, setzte thematisch auch linke Akzente. Nach der Wahl erklärte er etwa, das Wohnungsbauprogramm Minha Casa, Minha Vida (Mein Haus, mein Leben) wieder einführen zu wollen. Außerdem will Lula den Staatsapparat »demilitarisieren«. Unter Bolsonaro konnten sich dort 8.000 Militärs festsetzen, viele auf hohen Posten ohne entsprechende Qualifikation.

Die Politik von »Lula«, was übersetzt »Tintenfisch« bedeutet, zeichnete sich schon immer dadurch aus, die Tentakel in alle Richtungen auszustrecken. Am Vormittag über ein besetztes Gebiet der Landlosenbewegung MST marschieren, am Nachmittag in einer gläsernen Bankfiliale feinen Kaffee trinken? Kein Widerspruch für ihn. Seine Politik ist auf Konsens und Dialog ausgerichtet. »Lulismo« nennt sich das in Brasilien. Doch kann das noch einmal funktionieren? Brasilien hat sich verändert und die goldenen Zeiten sind vorbei. Das Land ist tief gespalten, der Wirtschaft geht es schlecht.

Zumindest auf internationaler Bühne hat Lula die Möglichkeit, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Bolsonaro hat Brasilien mit seinem Kahlschlagkurs in Amazonien und der wahnhaften Corona-Politik isoliert. Das Land gilt mittlerweile als Pariastaat. So ist es nicht verwunderlich, dass im Ausland viele erleichtert auf Lulas Wahlsieg reagierten – und ihm noch am Wahlabend viele hochrangige Staatschefs zum Sieg gratulierten.

Auch der Lehrer Adriel Fernandes ist auf die Wahlparty nach São Paulo gekommen. Der 39-Jährige mit Vollbart und knallrotem T-Shirt trägt seine Tochter auf den Schultern durch die Menschenmassen. »Große Erleichterung« verspüre er nach der Wahlniederlage Bolsonaros. »Hoffentlich können wir jetzt zurück zur Normalität.«

Niklas Franzen

ist Journalist und Autor des Buches »Brasilien über alles. Bolsonaro und die rechte Revolte«.