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Das Massaker von Rio de Janeiro

Mehr als 130 Menschen ermordete die Polizei am 28. Oktober in Brasiliens zweitgrößter Stadt. Der Einsatz reiht sich ein in eine tödliche Politik gegen die Schwarze Bevölkerung in Rios Peripherie

Von Ben Haab

Blick über einen dicht bebauten Stadtteil auf Berghängen
Blick über den Complexo Alemão, eine der betroffenen Favelas in Rio de Janeiro. Foto: Adam Jones / Wikimedia Commons, CC BY-SA 2.0

Es sind verstörende Bilder, die am Dienstag, den 28. Oktober, die Social-Media-Kanäle in Brasilien füllen. Ein Video zeigt die Favela Complexo Alemão in der Morgendämmerung. Schwarze Rauchsäulen steigen auf. Es wäre still, wären da nicht die Salven aus Maschinengewehren. Ein weiteres Video zeigt Menschen in einem Ladenlokal, die schreiend versuchen, hinter der Theke Schutz zu suchen, während im Hintergrund Schüsse fallen. Ein drittes zeigt Drohnen, die brennendes, vermutlich explosives Material abwerfen. Ein viertes eine panische Menschenmasse in einer U-Bahn-Station. Es war etwa 4 Uhr morgens, als bewaffnete Polizeieinheiten mit der offiziell gegen die organisierte Kriminalität des Comando Vermelho gerichteten Polizeiaktion begannen.

Das Comando Vermelho (Rotes Komando) ist eine kriminelle Organisation in Rio. In deutschsprachigen Medien wird sie oft Kartell genannt, was jedoch ihre Rolle als de facto Gewaltmonopol in manchen Regionen nicht ganz treffend abbildet. Die Bilanz des Einsatzes gegen das Comando Vermelho: mehr als 130 ermordete Favela-Bewohner*innen, vier tote Polizisten, 81 festgenommene Personen, 74 sichergestellte Sturmgewehre.

Der brutale Polizeieinsatz geht auf das Konto des rechten Politikers und Bolsonaro-Vertrauten Claudio Castro, seit 2020 Gouverneur von Rio de Janeiro.

Die beiden betroffenen Favelas, Complexo Alemão und Complexo da Penha, liegen in der nördlichen Zone Rio de Janeiros. Rund 300.000 Menschen leben in den nebeneinanderliegenden Gebieten. Ursprünglich Quilombos, Siedlungen von befreiten ehemals Versklavten, sind die beiden Stadtteile noch heute stark afrobrasilianisch geprägt. Es sind diese Orte, wo Polizeioperationen ihre tödliche Wirkung zeigen, in den Favelas der Peripherie. Sie terrorisieren Menschen auf dem Weg zur Arbeit und versetzen Familien mit Schüssen auf Wohngebäude und martialisch auftretenden Polizeieinheiten in den Straßen in Panik.

Betroffen ist indes die gesamte Stadt. Der öffentliche Nahverkehr fiel vielerorts aus, wegen gesperrter Straßen und um die mögliche Entführung von Bussen als Vergeltungsmaßnahme zu verhindern. Menschen saßen an Bahnhöfen fest, Schulen, Universitäten und andere öffentliche Gebäude wurden geschlossen. Die Regierung sprach mitten am Tag die zynische Empfehlung aus, Zuhause zu bleiben. Wie schon bei früheren polizeilichen Großaktionen gegen das Comando Vermelho reagierte dieses mit der sogenannten Freigabe von Überfällen in Gebieten, die ansonsten unter ihrem »Schutz« stehen. Die Sorge um Angehörige, die unterwegs festsaßen, war entsprechend groß.

Die Politik der Unsicherheit

Der tödlichste Polizeieinsatz in der Geschichte Rios geht auf das Konto des rechten Politikers und Bolsonaro-Vertrauten Claudio Castro, seit 2020 Gouverneur von Rio de Janeiro. Sein Vorgehen erinnert viele an Donald Trumps War on Drugs. Dabei reiht sich das aktuelle Massaker ein in weitere von Castro veranlasste tödliche Angriffe auf Rios Favelas. Im Namen des Kampfes gegen die organisierte Kriminalität zeichnet er bereits verantwortlich für das »Blutbad von Jacarezinho« bei dem 2021 29 Personen ums Leben kamen. Vier der fünf tödlichsten Polizeiaktionen im Bundesstaat gehen auf Castros Konto. Hinter dem aktuellen Angriff mit 2.500 Polizist*innen steht auch, das kommende Wahljahr vor Augen, das politische Kalkül, mit hartem Durchgreifen Stärke zu demonstrieren. Dabei steht außer Frage, dass Rio ein Problem mit organisierter Kriminalität hat. Rund 20 Prozent der urbanen Gebiete Rios gelten als unter der Kontrolle bewaffneter Gruppen. Auch mit der extremen Rechten verbandelte paramilitärische Gruppen (Milítias), die sich vordergründig dem Kampf gegen das organisierte Verbrechen widmen, spielen in der Politik der Unsicherheit eine Rolle. Leidtragend an dieser Konstellation ist die periphere, mehrheitlich Schwarze Bevölkerung der Favelas, die zwischen der Kontrolle durch organisierte Kriminelle und der rassistischen staatlichen Gewalt existieren muss.

Der Rassismus derartiger Megaoperationen in Favelas zeigt sich im Vergleich mit anderen Polizeieinsätzen gegen das organisierte Verbrechen. Die größten Beschlagnahmung von Waffen finden in der Regel außerhalb von Favelas statt – und ohne ein Blutbad anzurichten. Im Mai führte die Polizei eine Razzia bei Jonnathan Ianovitch durch, der verdächtigt wird, für das Comando Vermelho Geld gewaschen zu haben. Der Einsatz fand in zwei Luxusarpartements in Barra de Tijuca statt – einem der teuersten Quartiere Rios. Ohne dass ein Schuss fiel, wurde in dieser Aktion dutzende Waffen sichergestellt. Bei einer Razzia im Jahr 2019 wurden 117 Sturmgewehre des Typs M16 sichergestellt – im Haus eines Freundes des Ex-Militärpolizisten und verurteilten Mörders Ronnie Lessa. Auch bei dieser Razzia wurden keine Menschen getötet. Die beiden Fälle unterstreichen, was viele Linke in Rio kritisieren: Die spektakulären Aktionen in den Favelas dienen in erster Linie dem Wahlkampf rechter Hardliner.

In den ersten offiziellen Meldungen nach dem Einsatz war von rund 60 Getöteten die Rede. In den Morgenstunden des 29. Oktober offenbarte sich, dass das Grauen ein noch größeres Ausmass hatte. Dutzende Körper wurden in einem Waldstück gefunden, teilweise gefesselt, teils mit Stichwunden, manche verstümmelt, mutmaßlich von Polizeikräften hingerichtet.

Rechtes Spektakel

Die politische Rechte in Rio inszeniert öffentliche Sicherheit als Spektakel unter dem Deckmantel des Kampfes gegen die organisierte Kriminalität. Dabei verbessern solche Aktionen nichts an den Lebensbedingungen der Bewohner*innen Rios. Dass diese Politik niemanden sicherer macht, steht außer Frage. Weder die Bewohner:*innen Rios und am wenigsten die Bewohner*innen der betroffenen Communities. Vielmehr zeigen Untersuchungen, dass solche martialische Operationen das Problem verlagern: durch das Ausweichen der organisierten Kriminalität in andere Bundesstaaten und durch die Diversifizierung ihrer Geschäfte.

Effektiver, aber politisch weniger spektakulär wäre der Angriff auf Finanzflüsse und korrupte Mittäter*innen. Öffentliche Sicherheit ist nur mit langfristigen Strategien zu erreichen. Sie ist eine Frage der Stadtplanung und der sozialen Sicherheit insgesamt. Dabei geht es um klassische linke Themen wie das Recht auf Arbeit, auf würdige Wohnungen und auf Bildung – Rechte, von denen insbesondere die Schwarzen Favela-Bewohner*innen ausgeschlossen sind.

Am Tag nach dem Massaker werden auf einem zentralen Platz in Vila Cruzeiro im Complexo da Penha Leichen zur Identifizierung ausgestellt. Wie viele von ihnen überhaupt in Verbindung mit dem Comando Vermelho stehen, müssen Untersuchungen zeigen. Daneben halten Bewohner*innen ein Transparent mit der Aufschrift »Claudio Casto, Mörder, Terrorist«. Was zurückbleibt, ist ein Quartier unter Schock und Familien, die Angehörige zu betrauern haben. Die Busse fahren an diesem Tag wieder.

Ben Haab

ist aktiv in sozialen Bewegungen und studiert zurzeit Geschichte an der Universidade Federal Fluminense in Rio de Janeiro.