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Das Fukushima Südamerikas

Brasiliens Präsident lässt das Land im Chaos versinken – mit Kalkül

Von Niklas Franzen

Brasiliens Präsident Jair Bolsonare steht halb mit dem Rücken zur Kamera in einer Menschenmenge. Die Menschen strecken ihm ihre Arme entgegen und recken Smartphones in die Höhe, um ihn zu fotografieren. Bolsonaro hält die Hand eines seiner Fans.
Hat er trotz oder wegen seiner verheerenden Corona-Leugnerei so viele Fans? Bolsonaro beim Bad in der Menge im Januar 2021. Foto: Alan Santos/PR

Der Tiefpunkt, schrieb der Schriftsteller Luis Fernando Veríssimo einmal, sei in Brasilien nur eine Etappe. Selten war die Aussage zutreffender als zum jetzigen Zeitpunkt. Fast täglich verzeichnet das größte Land Lateinamerikas traurige Negativrekorde, taumelt von einer Krise zur nächsten, sendet Horrorbilder in die ganze Welt. Die Journalistin Eliane Brum spricht von einem »der schlimmsten Momente in der Geschichte des Landes«.

Die Corona-Krise hat Brasilien fest im Griff, auch weil die Virus-Mutation P1 im ganzen Land wütet. Die brasilianische Variante ist ansteckender als die ursprüngliche Version, und immer mehr jüngere Brasilianer*innen landen mit schweren Verläufen in den Krankenhäusern. Besonders beängstigend: Viele Neuinfizierte erkranken bereits zum zweiten Mal an Corona. Ob Impfungen gegen die Mutation schützen, ist unklar. Der Harvard-Epidemiologe Eric Feigl-Ding warnte unlängst vor einer »neuen Pandemie« durch die P1-Variante und sagte: »Brasilien ist wie Fukushima, es könnte die ganze Welt gefährden.«

Frust, Apathie, Ignoranz

Während andere Länder das Licht am Ende des Tunnels sehen, droht die Situation in Brasilien völlig außer Kontrolle zu geraten. Eine Studie der Universität von Washington rechnet mit mehr als 500.000 Toten bis Juli. Tausende Brasilianer*innen stehen auf Wartelisten für Intensivbetten, in mehr als 1.000 Städten könnte bald der Sauerstoff ausgehen, Friedhöfe bestatten wegen der vielen Toten nun auch nachts. Ein Bekannter schrieb mir kürzlich: »In meiner Facebook-Timeline sehe ich nur noch Traueranzeigen.« Wie konnte es so weit kommen?

Viele geben einem Mann Schuld an dem Drama: Jair Messias Bolsonaro. Der rechtsradikale Präsident hat die Pandemie als »kleine Grippe« heruntergespielt, Kranke verspottet und sich ohne Maske in Menschenmengen gemischt. Mehr noch: Bolsonaro entließ zwei Gesundheitsminister, weil sie den Empfehlungen der Wissenschaft folgten und setzt bis heute auf völlig unwirksame Medikamente zur Bekämpfung der Pandemie. Auch beim Impfen versagt die Regierung und stolpert von einer Panne zur nächsten. Besonders peinlich: Das Gesundheitsministerium verwechselte Amazonas und Amapá und verschickte falsche Impfdosen in die beiden Bundesstaaten. Zwar nahm die Impfkampagne zuletzt an Fahrt auf, allerdings nicht schnell genug, um den rasanten Anstieg noch aufzuhalten. Tragisch, denn eigentlich ist das öffentliche Gesundheitssystem Brasiliens gut aufgestellt, das Land verfügt über hervorragende Forscher*innen und ist durch vorherige Epidemien krisenerprobt. Früher wurden rekordverdächtige 18 Millionen Kinder an einem Tag geimpft – kaum vorstellbar in Zeiten, in denen Verschwörungsideolog*innen, ultrarechte Hardliner und Wissenschaftsfeinde die Regierung stellen.

In einem Land, in dem jährlich 50.000 Menschen ermordet werden, habe man sich längst an das große Sterben gewöhnt, sagt der Philosoph Silvio Almeida.

Die Reaktion der Bevölkerung auf die Katastrophe schwankt zwischen Frust, Apathie und Ignoranz. Viele nehmen das Virus immer noch nicht ernst genug, noch Mitte Februar feierten Tausende ausgelassen auf illegalen Karnevalspartys. Der Philosoph Silvio Almeida spricht von einer »Naturalisierung des Todes«: In einem Land, in dem jährlich 50.000 Menschen ermordet werden, habe man sich längst an das große Sterben gewöhnt.

Dennoch: Der Unmut wächst, und Bolsonaros Zustimmungswerte sanken zuletzt massiv. Auch von seinen Bündnispartner*innen bekommt er zunehmend Druck. Der Präsident des Abgeordnetenhauses drohte indirekt mit einem Amtsenthebungsverfahren, auch Wirtschaftsverbände kritisierten den ultrarechten Politrowdy zuletzt in ungewohnter Deutlichkeit. Bolsonaro reagierte, wenn auch zaghaft. Er begann Masken zu tragen, sprach sich für Impfungen aus und stellte einen Krisenstab zusammen. Das Land bekam einen neuen Gesundheitsminister, diesmal zumindest einen Arzt. Weitere sechs Minister wurden ausgetauscht.

Linker Hoffnungsträger

Der vorsichtige Kurswechsel und die Ministerrochade sind wahrscheinlich auf das spektakuläre Comeback eines Mannes zurückzuführen: Luiz Inácio da Silva, besser bekannt als Lula. Alle Verurteilungen gegen den sozialdemokratischen Ex-Präsidenten waren Anfang März vom Obersten Gerichtshof aufgehoben worden. Damit kann sich das Idol der lateinamerikanischen Linken bei der Präsidentschaftswahl 2022 wahrscheinlich noch einmal aufstellen lassen. Der extrem populäre Lula führt in aktuellen Wahlumfragen. Vielen Rechten treibt Lulas mögliche Rückkehr den Angstschweiß auf die Stirn, und Bolsonaro merkt, dass ihm sein Corona-Kurs auf die Füße fallen könnte. Stolpert der Rechtsradikale – ähnlich wie sein Idol Trump – über die Pandemie?

Fakt ist: Die Regierung steckt in der heftigsten Krise seit Amtsantritt. Allerdings wäre es fahrlässig, bereits einen Abgesang anzustimmen. Das Wählerverhalten in Brasilien ist extrem volatil und hängt vom aktuellen politischen Geschehen ab. Sollte die Pandemie irgendwann in den Griff zu kriegen sein, werden vor allem die wirtschaftlichen Folgen im Fokus stehen. Und Bolsonaro, der leidenschaftlich gegen Lockdowns wetterte, wird die Schuld für die kommende Misere auf die Gouverneur*innen und Bürgermeister*innen schieben. Außerdem: Die Pandemie wird die Gesellschaft weiter polarisieren, die Gewalt wird zunehmen – ideal für einen rechten Demagogen wie Bolsonaro. Auf lange Sicht könnte ihm die Instabilität sogar nützen.

So dauerte es auch nur wenige Tage, bis Bolsonaro wieder auf seinen alten Kurs einlenkte. Als am 7. April die Marke von 4.000 Toten in 24 Stunden überschritten wurde, verharmloste Bolsonaro den Corona-Horror in Brasilien als »verschüttete Milch« und polterte in gewohnter Manier gegen Beschränkungen. Nach solchen Auftritten wird Bolsonaro häufig als irre, dumm oder überfordert dargestellt. Dabei steckt dahinter knallhartes Kalkül: Von seinen Anhänger*innen wird er für seine ungehobelte Art und politische Unkorrektheit vergöttert. Rund 25 Prozent der Brasilianer*innen stehen dem »Antipolitiker« und Tabubrecher treu an der Seite – nicht trotz, sondern wegen der ständigen Ausfälle, Attacken und Provokationen. Politik macht Bolsonaro seit jeher ausschließlich für seine Wählerbasis. Damit ist er erschreckend erfolgreich.

Die Friedhof von Manaus im Dezember 2020. Die Todeszahlen sind so hoch, dass nun auch nachts beerdigt wird. (Foto: Bruno Kelly/Amazônia Real)

Und die Linke? Die hat der Regierung in der Krise nur wenig entgegenzusetzen. An Demonstrationen ist derzeit kaum zu denken, es fehlt eine klare Linie. Einige fordern eine Amtsenthebung, andere klammern sich an Lula. Die Rechnung: Kandidatur des Sozialdemokraten, Wahlsieg, Ende des Albtraums. Doch ganz so einfach ist es nicht. Noch ist überhaupt nicht klar, ob Lula wirklich antreten darf. Schon 2018 wurde er aufgrund von juristisch fragwürdigen Verurteilungen aus dem Rennen gezogen und musste die Wahl aus dem Gefängnis verfolgen. Außerdem ist der Ex-Gewerkschafter auch bei vielen Linken umstritten. Obwohl kaum jemand die historischen Fortschritte bei der Armutsbekämpfung und im Bildungsbereich leugnen würde, betrachten viele Linke seine Amtszeit ambivalent. So hofierten Lula und seine Arbeiterpartei PT das Agrobusiness, ließen umweltschädliche Staudämme in Amazonien bauen. Außerdem wurde ein umstrittenes »Anti-Drogen-Gesetz« verabschiedet, etliche PT-Politiker*innen waren in Korruptionsskandale verstrickt, und die Partei erweist sich bis heute als völlig unfähig, Selbstkritik zu üben. Dennoch: Mittlerweile wäre selbst vielen Konservativen alles lieber als Bolsonaro.

Autoritäre Krisengewinne

Expert*innen befürchten, dass der Präsident die chaotische Situation für autoritäre Experimente nutzen könnte. Droht eine Situation wie in Ungarn oder der Türkei? Anzeichen dafür gibt es. So hat Bolsonaro in den letzten Wochen versucht, das Militär für seine Zwecke gefügig machen. Höhepunkt der Bestrebungen: Er feuerte Verteidigungsminister Fernando Azevedo e Silva. Dieser hatte seinem Chef klargemacht, dass die Streitkräfte der Verfassung und nicht dem Regierungsprojekt Bolsonaros verpflichtet seien. Der Rauswurf von Azevedo löste eine handfeste Krise aus. Aus Protest traten die Oberbefehlshaber der Armee, Marine und Luftwaffe gemeinsam zurück – ein einmaliger Vorgang in der Geschichte Brasiliens. Mit dem Rückzug der »moderaten« Militärs könnte Bolsonaro nun endgültig versuchen, die Streitkräfte in seine Privatarmee zu verwandeln. Als neuen Verteidigungsminister setzte er einen linientreuen General ein. Dieser forderte gleich an seinem ersten Arbeitstag, den Militärputsch von 1964 zu feiern, der in eine brutale 21-jährige Diktatur geführt hatte.

So geht in Brasilien die Angst vor einem autogolpe, Selbstputsch, um. Dazu ist der ausgewiesene Antidemokrat Bolsonaro zwar derzeit noch zu schwach. Allerdings: Vieles deutet darauf hin, dass Bolsonaro seinen eigenen 6. Januar vorbereitet. An diesem Tag stürmten Unterstützer*innen von US-Präsident Trump das Kapitol in Washington, fünf Menschen starben. Bolsonaro hat bereits klargemacht, er werde weder ein Amtsenthebungsverfahren noch eine Wahlniederlage akzeptieren. Zwar stehen viele Generäle Bolsonaro kritisch gegenüber. Allerdings hat der ehemalige Fallschirmjäger gerade in den unteren Rängen viel Rückendeckung und genießt die fast uneingeschränkte Unterstützung der Polizei, die in Brasilien ebenfalls militarisiert ist. Ob sich Sicherheitskräfte bei einem Putschversuch dem rechten Mob entgegenstellen, darf bezweifelt werden – und so muss sich Brasilien wahrscheinlich mal wieder auf neue Tiefpunkte einstellen.

Niklas Franzen

ist Journalist und Autor des Buches »Brasilien über alles. Bolsonaro und die rechte Revolte«.