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Allein im Mittelmeer

Für Menschen, die eine Überfahrt machen, hat sich die Situation dramatisch verschlechtert, sagt Britta Rabe von Alarmphone im Gespräch

Interview: Paul Dziedzic

Strand mit Blumen, um an die Toten im Mittelmeer zu gedenken
Immer wieder sterben Menschen im Mittelmeer – manche, während sie auf Hilfe warten, die nicht kommt. Foto: Watch the Med Alarmphone / Twitter

Watch the Med Alarmphone betreibt eine ehrenamtliche Hotline für Menschen in Seenot und dokumentiert Fälle von Menschenrechtsverletzungen auf dem Mittelmeer. Die Küstenwachen verhielten sich zunehmend aggressiver und seien in Notfällen kaum mehr zu erreichen, so Britta Rabe.

Wegen der Corona-Krise erscheint es so, als seien die Grenzen geschlossen und deshalb wäre die Situation ruhig. Wie würdest du die Lage in den verschiedenen Regionen einschätzen?

Britta Rabe: Die Situation hat sich dramatisch verschlimmert. Gerade über die zentrale Mittelmeerroute und Libyen berichten deutsche Medien eher, wenn es um NGO-Schiffe geht. Einige werden aktuell an Missionen gehindert, andere sind wieder aktiv. Für uns als Alarmphone ist es aber generell so, dass die NGO-Schiffe für einige Tage da sind. Doch meist sind wir alleine auf dem Mittelmeer, und das über viele Wochen. Wie um Ostern herum, da gab es ganz krasse Fälle, die ich so vorher noch nicht erlebt habe. Italien und Malta haben ihre Seenotrettung eingestellt und die Häfen geschlossen, weil sie keine Geflüchteten mehr aufnehmen wollten. Das hat die Menschen aus Libyen nicht davon abgehalten, trotzdem abzufahren. In Libyen ist Krieg, es gibt dort keine Arbeit mehr und die Verhältnisse in den Lagern beziehungsweise den Knästen sind ja bekannt. Dort herrscht ebenfalls Corona, auch wenn keine offiziellen Zahlen bekannt sind. Es gibt also genug Gründe dafür, sich auf den Weg zu machen, und das unabhängig davon, ob es Seenotrettung gibt oder nicht.

Menschen versuchen auch weiterhin, von der Türkei auf die griechischen Inseln hinüberzufahren. Mit der neuen Regierung hat auch die Gewalt gegen Flüchtende zugenommen. Die griechische Küstenwache wartet auf dem Meer auf Boote und treibt sie mit Gewalt zurück in türkisches Gewässer. Oftmals greifen maskierte Männer die Menschen an und schlagen und beschimpfen sie, zerstören ihre Boote und überlassen sie sich selbst. Mit Glück filmen die Menschen die Szenen so, dass sie veröffentlicht werden können.

In Marokko gab es in der Corona-Zeit eine Ausgangssperre und deshalb ist dort lange niemand gefahren. Jetzt geht es aber wieder los. Jedoch hatte Spanien schon vor Corona dafür gesorgt, dass im Norden Marokkos viele Razzien stattfinden, damit die Leute von dort nicht mehr Richtung Spanien losfahren. Die Aktionen richten sich vor allem gegen Menschen aus Sub-Sahara Afrika: Sie werden mit Bussen in den Süden des Landes gefahren und dort ausgeladen. Auch die Orte, wo sich die Menschen treffen, werden zerstört, im Norden Marokkos und in den Wäldern bei Ceuta und Melia, wo Leute versuchen, über den Zaun zu kommen. Inzwischen hat sich die Seeroute auf die kanarischen Inseln verlagert. Das ist aber eine Reise, die tagelang dauert, und wir verlieren den telefonischen Kontakt zu den Menschen auf dem Boot, weil es kein Mobilnetz auf der Strecke gibt. Wir können dann nichts anderes machen, als abzuwarten, ob sie gerettet werden oder ankommen.

Britta Rabe

Britta Rabe ist seit 2014 Aktivistin beim Alarmphone. Dort macht sie Telefonschichten und arbeitet zum zentralen Mittelmeer.

Wie kommt es, dass die EU trotz vieler Menschenrechtsverletzungen weiterhin an der Partnerschaft mit Libyen hält?

Die EU bildet die sogenannte libysche Küstenwache aus und finanziert sie, denn ihr Interesse ist es, dass die Menschen nicht nach Europa kommen. Dafür nimmt sie Menschenrechtsverletzungen in Kauf. Die EU hat diese Arbeit ausgelagert, damit kein europäisches Schiff oder europäische Institution die direkte »Drecksarbeit« der Deportationen nach Libyen machen muss. Das wäre juristisch ein Problem. Trotzdem ist es so, dass es eine direkte Zusammenarbeit gibt, zum Beispiel durch die Luftüberwachung von EunavforMed, Frontex und auch Italien und Malta. Die fliegen das gesamte Gebiet vor Libyen ab und suchen nach Booten, die sich in ihre Richtung bewegen. Das geben sie dann an Italien, Malta und damit an Libyen weiter. Die libysche Küstenwache ist für das libysche Such- und Rettungsgebiet zuständig, holt aber auch Menschen aus der Zone von Malta zurück nach Libyen. Das ist illegal. Wir haben es mehrfach dokumentiert. Es passiert wahrscheinlich sogar täglich. Wir haben da zum Beispiel einen Fall vom Oktober letztes Jahr, den wir publiziert haben. Ein maltesischer Offizier der Armed Forces of Malta, die auch eine Küstenwachenfunktion haben, hat uns – wahrscheinlich unbeabsichtigt – eine Position bestätigt und gesagt, die libysche Küstenwache habe dort ein Boot gerettet und nach Libyen gebracht. Die Position war in der maltesischen Such- und Rettungszone. Oft erzählen uns auch die Leute auf den Booten, dass sie Flugzeuge über sich sehen, manchmal kann man die Flugzeuge auch online tracken und diese Verbindungen nachvollziehen und deutlich machen. Diese Militäroperationen sind aber meist schwer nachweisbar, da verdeckt.

Nicht nur die libyschen Schiffe geben keine Standortinformationen weiter, sondern auch europäische Schiffe, zum Beispiel von Frontex.

Genau, Militärschiffe tauchen sämtlich nicht auf dem AIS (1) auf. Wer unterwegs ist, ist überhaupt nicht transparent, und mittlerweile kriegt man keine Auskunft darüber, ob es überhaupt eine Rettungsmission gibt, ob Malta oder Italien reagieren oder ob sie ein Schiff in der Nähe haben. Wir können in diesen Fällen nur das Ergebnis abwarten. Wenn wir einen konkreten Seenotfall kriegen, wissen wir oft stundenlang oder tagelang nicht, ob Rettung kommt. Wir hören nur von den Menschen auf dem Boot, dass niemand sie rettet. Denn wir sind die einzigen, mit denen die Menschen in Seenot in Kontakt sind.

Wie reagieren kommerzielle Schiffe, wenn sie kontaktiert werden?

Frachter spielen eine immer größere Rolle. Malta und Italien funken solche Schiffe mit dem Ziel an, sie nach der Rettung nach Libyen oder Tunesien zu schicken. Auch, wenn das Schiff unter europäischer Flagge fährt oder die Geretteten das nicht wollen, wie der Fall der El-Hiblu zeigt. Vor anderthalb Jahren haben sich 108 Gerettete auf dem Schiff gegen ihre Rückführung nach Libyen gewehrt. Der Frachter brachte sie nach Malta. Jetzt sind dort drei Jugendliche als Piraten und Terroristen angeklagt. Der Kapitän des Ölplattformschiffs Asso 28, der Menschen unrechtmäßig nach Libyen zurückgebracht hatte, wurde Mitte Juli in Italien angeklagt. Anfang August hat ein anderes Schiff derselben Firma, die Asso 29, wieder kurz vor Libyen Leute gerettet, sie aber diesmal nach Italien gebracht. Vielleicht haben Klagen tatsächlich eine Wirkung und Urteile können zukünftig Rückführungen nach Libyen verhindern. Aber die Kapitäne wissen oft nicht, dass die Rückführung nach Libyen nicht legal ist oder berufen sich auf die zuständige Küstenwache, die sie angewiesen hat. Dabei sagt eine Untersuchung des Wissenschaftlichen Dienstes im Bundestag, dass sie den Anweisungen der Küstenwache in diesem Fall nicht folgen müssen. Die Firmen verlieren durch Rettungen Zeit und damit Geld. Manchmal bleiben die Frachter nur neben den Booten stehen und warten dann auf die libysche Küstenwache, die die Flüchtenden dann holt.

Welche Mittel habt ihr, um die Situation zu verbessern?

In unserer täglichen Arbeit begleiten wir Menschen am Telefon, sprechen ihnen Mut zu und beruhigen sie. Und wir machen ihre Stimmen öffentlich. Wir schreiben, was wir von den Leuten auf dem Boot hören und dokumentieren die Fälle. Wir sind mit anderen NGOs vernetzt und bitten, wenn nötig, dass einzelne Politiker*innen und Kirchenobere Druck machen. Denn inzwischen ist es normal geworden, dass Menschen auf der Flucht tagelang nicht geholfen wird. Wir hatten gerade ein Boot, das erst nach 80 Stunden auf dem Wasser gerettet wurde. Das ist bisher unser Spitzenrekord. Mal sehen, wann er gebrochen wird. Momentan ist es wirklich ein Kampf um jedes Boot, die Küstenwache dazu zu bewegen, Menschen zu retten. Die Rettungsstelle in Malta ist quasi nicht zu erreichen. In den letzten Wochen kommen viele Boote aus Tunesien und Libyen in Lampedusa an. Die Menschen, die die weite Strecke aus Libyen zurücklegen, sind aktuell besser ausgestattet, sie haben genug Benzin und gute Motoren. Dann gibt es zum Beispiel rechtliche Schritte auf EU-Ebene, aber auch auf lokaler Ebene, zum Beispiel durch Klagen in Italien und Malta. Die können wir mit unserer Dokumentation unterstützen. Wir hatten über Ostern einen besonders krassen Fall. Es gab ja keine Seenotrettung. Vier Boote trieben auf dem Meer. Auf einem Boot sind die Menschen nicht ertrunken, sondern teilweise verdurstet. Malta hatte ehemalige Fischereischiffe über eine dubiose Quelle auf Malta angeheuert. Eines hat die Menschen in Seenot nach fünf Tagen aus der maltesischen Rettungszone aufgesammelt, aber nach Libyen zurück gebracht. Eine maltesische NGO klagte daraufhin den Premierminister von Malta und zwölf Offiziere von den Armed Forces of Malta an, den Premierminister wegen des Todes von fünf Menschen, und AFM, weil wir dokumentieren konnten, dass sie ein Boot angegriffen und den Motor zerstört hatten. Gleichzeitig wird aktuell geprüft, ob Italien sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machte.

Wo siehst du in Deutschland Ansätze zur Verbesserung der Lage ?

Grundsätzlich finde ich die Seebrücken-Bewegung eine gute Sache, die auf die Situation im Mittelmeer hinweist und in die Öffentlichkeit bringt. Sie gehen auch Fragen an, wo die Leute hinkommen, wenn sie erst einmal in Europa angekommen sind. Innenminister Seehofer hat gerade die kommunalen Anfragen der Seebrücke abgelehnt, Menschen hier aufzunehmen. Dass Meinungen wie seinen widersprochen werden, finde ich wichtig. Notwendig ist überdies, über die Zustände in Libyen zu sprechen – und über die Rolle der Bundesregierung. Auch, dass Namen von Profiteuren genannt werden, wie Airbus in der Überwachungstechnik, oder dass man sich überlegt, was man gegen Frontex und andere Akteure machen kann. Das sind alles gute und wichtige Schritte. Als Alarmphone vertreten wir das Recht auf Bewegungsfreiheit für alle Menschen gleichermaßen. Das sollte die Maxime sein, für die alle kämpfen.

Anmerkungen:
1) AIS (Automatic Identification System) ist ein Funksystem zum Austausch von Schiffsdaten, das diverse online-Portale in Echtzeit abbilden.