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Geschlossen islamistisches Umfeld

Die demokratische Selbstverwaltung Nordostsyriens will wegen der schlechten Lage im Gefangenencamp Al-Hol syrische IS-Familien freilassen

Von Anselm Schindler

Im Camp Al-Hol in Nordostsyrien leben 65.000 IS-Anhänger*innen. Foto: Sebastian Bähr

Anfang Oktober sorgte die Meldung über eine Amnestie für syrische IS-Gefangene im nordostsyrischen Al-Hol Camp für Aufsehen. Und sie ließ die Debatte darüber, was mit den zehntausenden IS-Kriegsgefangenen in Nordostsyrien passieren soll, erneut hochkochen. Die demokratische Selbstverwaltung von Nordostsyrien, besser als Rojava bekannt, fühlt sich mit den vielen IS-Gefangenen schon lange alleine gelassen und fordert seit Jahren, dass die ausländischen Kämpfer, die die Mehrheit der Inhaftierten in den Camps darstellen, von den Staaten, aus denen sie stammen, zurückgeholt werden.

In einer Pressekonferenz in Raqqa begründete Elham Ahmad, Präsidentin des Exekutivkomitees des Demokratischen Volksrates Syrien, die Entscheidung für die geplante Freilassung von Syrer*innen aus dem Al-Hol Camp mit den hohen Kosten und den untragbaren Zuständen im Camp. »Die Autonomiebehörden sind nicht verpflichtet, exorbitante Beträge zu leisten, um diese Menschen mit Lebensmitteln und anderen Dingen zu versorgen, geschweige denn, um täglich auftretende Probleme wie Attentate, Vergewaltigungen und andere Straftaten zu lösen«, sagte Ahmad in der Konferenz. In dem Camp, in dem insgesamt rund 65.000 Menschen leben, kam es insbesondere während der letzten Invasion der Türkei im vergangenen Herbst immer wieder zu Ausbrüchen und Aufständen.

Amnestie per Abkommen

Der Demokratische Volksrat Syrien, ein Dachverband für politische Parteien sowie Vertreter*innen der Volksräte, hat mit den Anführern jener arabischen Gemeinden, aus denen die IS-Leute rekrutiert wurden, ein Abkommen vereinbart. In dem Abkommen werde die Rückführung der Internierten an ihre Wohnorte sowie ihre Reintegration in die Gesellschaft geregelt, heißt es von der kurdischen Nachrichtenagentur ANF. Wie die Rückführung im Detail aussehen soll ist unklar. Klar ist nur, dass sie für mehr als die Hälfte der Gefangenen im Al-Hol Camp keine Bedeutung hat. Denn nach UN-Angaben sind nur rund 37 Prozent der Internierten syrische Staatsbürger*innen, und nur für diese gilt die Amnestie. Und auch hier soll es Ausnahmen geben: Die syrischen Staatsbürger*innen, gegen die im Zusammenhang mit dem IS schwere Vorwürfe wie Mord, Hochverrat oder Terrordelikte vorliegen, bleiben weiterhin im Camp.

Neben den rund 25.000 syrischen Staatsbürger*innen stammen in dem Camp, das an der irakischen Grenze liegt, rund 30.000 Menschen aus dem Irak, rund 10.000 haben sich dem Kampf des IS aus anderen Teilen der Welt angeschlossen. Darunter sind Jihadist*innen aus der Türkei, aus arabischen Ländern, aber auch Tschetschenen, Uiguren und Gefangene aus westlichen Ländern. Um die Frage, wer für diese Leute verantwortlich ist, wird bereits seit Jahren gestritten: Vonseiten der autonomen Selbstverwaltung Nordostsyriens und von Führungspersönlichkeiten der kurdischen Freiheitsbewegung wurde vor allem an westlichen Staaten immer wieder Kritik laut – verbunden mit dem Aufruf, endlich Verantwortung zu übernehmen.

Eine Forderung, die auch im Bundestag debattiert, von der Bundesregierung aber abgewiesen wurde, mit Verweis darauf, dass man die Demokratische Föderation Nordostsyrien nicht offiziell anerkenne und die Abwicklung der Rückholung deshalb verwaltungstechnisch nicht umsetzbar sei. Die Regierungen von Schweden, Belgien, Usbekistan und Kosovo sehen das offenbar anders, während in Deutschland noch diskutiert wurde, holten sie ihre Staatsbürger*innen zurück. Die zögerliche Haltung der deutschen Regierung hat auch etwas mit den guten Beziehungen zur Türkei zu tun. Denn offizielle Verhandlungen über die Rücknahme von Gefangenen würden im Rückschluss auch eine gewisse Anerkennung der Institutionen der Selbstverwaltung Nordostsyriens bedeuten.

Besonders radikalisiert

Gerade die IS-Gefangenen, die aus anderen Teilen der Welt kommen, gehören zu den am meisten radikalisierten IS-Anhänger*innen. Das gilt auch für das Al-Hol Camp, in dem für diejenigen Islamist*innen, die nicht aus dem Irak oder aus Syrien stammen, ein eigenständiger Zelttrakt eingerichtet wurde. Auch, um sie von denen, die am IS inzwischen Zweifel haben, und denen, die Binnenflüchtlinge sind, und nie für den IS gekämpft haben, zu trennen. Die BBC und anderer westliche Medien besuchten das Camp in den vergangenen Jahren wiederholt, auch den internationalen Trakt des Camps. Die Berichte zeigten Menschen, die sich trotz der territorialen Zerschlagung des IS zum Kalifat und zum islamistischen Kampf bekannten und für einen Rückkehr des IS beteten. Dabei sind Kämpfer im Lager eine Minderheit, die Mehrheit sind Frauen und Kinder. Aber auch sie gelten als hoch radikalisiert. Klar ist: Im Camp wird man dieser Radikalisierung nicht viel entgegensetzen können. Und die schlechte Versorgung verschlimmert die Lage noch und trägt ihren Teil dazu bei, dass die Kinder im Camp in einem mehr oder minder geschlossen islamistischen Umfeld aufwachsen.

Die Gefangenen im Camp zu belassen ist nicht zuletzt deshalb nicht sinnvoll. Doch auch die Amnestie schafft neue Problemlagen: Denn ob die Rücknahme-Abkommen zwischen den arabischen Anführern und der Demokratischen Föderation funktioniert und eine Deradikalisierung der Familien stattfindet, wird sich erst in den kommenden Jahren zeigen. Die Freilassung der IS-Gefangenen bleibt deshalb ein Risiko.

Anselm Schindler

ist im Netzwerk Defend Kurdistan und bei der Kommunistischen Partei Österreich (KPÖ) aktiv und schreibt regelmäßig zu internationalen Konflikten.