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Why we fight

Die Kuratorinnen Jacqueline Saki Aslan und Dîlan Balhan erklären, worum es bei dem Theaterprojekt »Kein Schlussstrich« geht

Interview: Carina Book

Kein Schlussstrich! ist ein dezentrales und interdisziplinäres Theaterprojekt, das sich in 15 Städten mit dem NSU-Komplex beschäftigt. Foto: Kein Schlussstrich - Bundesweites Theaterprojekt zum NSU-Komplex

Vom 21. Oktober bis zum 7. November finden in Hamburg an mehreren Orten Veranstaltungen im Rahmen des bundesweiten Theaterprojekts »Kein Schlussstrich« statt, darunter vier Tage am Spielort Kampnagel. Kuratorinnen sind Jacqueline Saki Aslan und Dîlan Balhan. Dabei wird es u.a. um Kunst und widerständige Strategien, um Sichtbarmachung und Interventionen von Initiativen sowie um mediale Repräsentation gehen. Es sind Formate geplant, die sich mit Denkmälern und unerfüllten Forderungen auseinandersetzen sowie mit dem Sprechen über Rassismus und Retraumatisierung. Auf Wunsch von Candan Özer wird zudem, eingebettet in das Programm, eine Gedenkveranstaltung für Atilla Özer, Überlebender des NSU-Nagelbombenanschlages in der Kölner Keupstraße, stattfinden. Atilla Özer starb 2017 im Alter von 43 Jahren an den Spätfolgen.

Ihr kuratiert den Hamburger Teil des bundesweiten Theaterprojekts »Kein Schlussstrich«, wobei es sich nicht um ein Theaterstück handelt, sondern um ein Projekt an Theatern. Was plant ihr?

Saki Aslan: Wir schaffen eine Schnittstelle zwischen Diskurs, Kunst und Aktivismus – in Hamburg öffnen wir dafür mehrere Orte als künstlerischen Raum. Der deutsche Theaterraum an sich ist nicht zugänglich für viele marginalisierte Menschen. Uns geht es aber explizit um Empowerment, daher ist uns wichtig, dass wir auch in die Stadtteile rein und beispielsweise an Orte gehen, die stigmatisiert sind.

Dîlan Balhan: Unser Projekt nennen wir »Kein Schlussstrich – Why we fight«. Wir wollen für einander miteinander besprechen, abklären, erfahren, hinterfragen und reflektieren, was NSU und »Kein Schlussstrich« für uns konkret bedeuten – aus unserer Perspektive. Und was es bedeuten muss aus weißer Perspektive. Und das dann mit einer neuen Geschichtsschreibung für uns claimen. Im Sinne von: Ja, das ist kein Schlussstrich!

Wer wird sprechen und worüber?

Saki Aslan: 2021 jähren sich die Ermordungen von Abdurrahim Özüdoğru, Habil Kılıç und Süleyman Taşköprü zum 20. Mal. Der bundesweite Rahmen ist wichtig, um breite Sichtbarkeit für rechte, rassistische und antisemitische Gewalt über aktivistische Kreise hinaus zu schaffen. Entscheidend ist jedoch auch die lokale Verhandlung konkreter Stadt-Vergangenheit und -Gegenwart. Daher werden wir auch die spezifischen Hamburger Kontexte rund um den NSU-Komplex und die Geschichte anderer rechter, rassistischer, antisemitischer Anschläge in Hamburg beleuchten. Zudem wird es beispielweise um die Frage gehen, wer für wen spricht und was es eigentlich bedeutet, als sogenannte Rassismusexpert*innen immer und immer wieder über Rassismuserfahrungen sprechen zu müssen, damit ein weißes Publikum sich damit auseinandersetzt. Daher ist uns wichtig, dass vor allem Bedürfnisse, Forderungen und das Gedenken der Angehörigen, sowie der Aktivist*innen, die in den zahlreichen Hamburger Gedenkinitiativen, als selbstorganisierte Gruppen oder Individuen, für ein lebendiges und würdevolles Erinnern arbeiten, den größten Raum bekommen. Sie sind wichtige Wissensträger*innen und kämpfen seit Jahrzehnten für sichere und selbstbestimmte Räume des Erinnerns. Wir sollen sie dabei unterstützen, wollen auch, dass Leute sich vernetzen können, Initiativen und Aktivist*innen einen Ort bekommen, an dem sie Kraft tanken können.

Dîlan Balhan: Als wir uns zusammengesetzt und überlegt haben, wie wir kuratieren wollen, haben wir festgestellt: Wir waren schon so oft auf Veranstaltungen, Workshops, Symposien und basically teilen wir dieselbe Erfahrung, nämlich, dass du danach eine Woche Therapie brauchst, weil die dich auseinandernehmen. Woran liegt das? Das liegt daran, dass aus weißer Perspektive gesprochen wird, dass für andere Menschen gesprochen wird, dass nicht gefragt wird: Was brauchst du? Willst du darüber überhaupt reden? Ist das cool für dich? Aus dieser Erfahrung heraus zu kuratieren, heißt für uns, einen Ort zu schaffen, an dem wir selber gerne sein wollen. Dafür haben wir vier feste Tage auf Kampnagel, einer prestigeträchtigen internationalen Bühne: Zwei Tage werden wir über Rassismus und die dahinterliegenden Strukturen sprechen – nicht aus einer Opferperspektive, sondern aus einer betroffenen aufrechten Haltung heraus. Und die nächsten zwei Tage versuchen wir dann, Strukturen und einen aufrechten Gang für uns selbst zu schaffen, so dass wir danach – auch wir beide – da weg gehen und sagen können: Yo, es war richtig hart, aber ich bin bestärkt in meinem Kampf und weiß, es gibt einen gleichgesinnten Raum.

Da werden Menschen mit Rassismuserfahrungen hinkommen, aber auch andere. Wie geht ihr damit um, dass es Brüche geben wird in der Zuhörer*innen- und Teilnehmer*innenschaft?

Dîlan Balhan: In unseren Communities herrscht ein Vertrauen untereinander, man kennt sich, sieht sich und fühlt miteinander. Dass sich Initiativen rund um Personen bilden, die aufgrund eines Nazi-Mordes einen Verlust erlitten haben, sich Menschen solidarisieren ohne den Angehörigen Raum zu nehmen oder ihnen etwas in den Mund zu legen – dieser heilsamen Dynamik werden wir einen Raum geben. Das bedeutet auch zu sagen: Schön, dass wir jetzt einen Platz an eurem Tisch kriegen, wir nehmen den auch – wir bauen aber parallel dazu sehr lange schon unsere eigenen Tische.

Saki Aslan: Wir wollen uns nicht an einem nichtbetroffenen Publikum abarbeiten. Es geht in erster Linie darum, die Sichtbarkeit der Kämpfe, die geführt werden, zu erhöhen, ebenso wie die der Kontinuitäten, die in Deutschland herrschen; darum, den Blick darauf zu richten, dass es rechte Morde in Hamburg gab, die noch immer nicht aufgearbeitet sind und darum, dass die Hinterbliebenen und Überlebenden Aufklärung verdienen. Deswegen liegt der Fokus eher auf dem Publikum, das sich da drin wiederfindet, Unterstützung braucht, diese Forderungen stellt. Wir wollen keine Leidensgeschichten ausstellen, sondern Power geben – denen, die die ganze Zeit diese Arbeit machen, Wertschätzung entgegenbringen. Was ich vom Publikum erwarte ist, dass es das checkt: dass das nicht nur sogenannte Betroffene sind, sondern Menschen, die aktiv, zum Teil seit Jahrzehnten, daran arbeiten, gegen Rassismus, Faschismus, Antisemitismus und andere Ausschlüsse anzugehen. Ohne diese Aktivist*innen wären wir aufgeschmissen!

Welche Fragen, die euch darüber hinaus wichtig sind, bringt ihr mit in die Kuration ein?

Dîlan Balhan: Zu erleben, dass zwei Tage nach dem rassistischen Massaker von Hanau noch nicht einmal 200 Menschen in meiner Stadt demonstriert haben, um ihr Mitgefühl auszudrücken, war für mich einschneidend. Ebenso wie immer wieder zu erleben, wie die Politik sich windet, wie weggeschaut wird bei Brechmitteleinsätzen, racial profiling an der Balduintreppe im Hamburger Hafen oder auch, als sich mit William Tonou-Mbobda ein Schwarzer Mensch auf der Suche nach Unterstützung in die Hamburger Psychiatrie einer renommierten Klinik, des UKE, begab und dort ermordet wurde. Diese Nichtaufarbeitung, das Wegducken, Wegschauen und Weghören und das liberale Gehabe, sich einerseits zurückzuziehen und andererseits zu sagen, jaja naja, ich mach ja schon was ich kann – das ist im deutschen Kontext, als deutsche Kontinuität zu verstehen. Wir haben mit dem Symposium eine Chance, genau das zu benennen.

Saki Aslan: Mich beschäftigt das Thema Denkmäler sehr. Viele unterschätzen, was es bedeutet, ein Denkmal zu haben. Als ich studiert habe, hat mich eine Dozentin mal gefragt als es um Familien­narrative ging: Hast du dich eigentlich schon einmal gefragt, wo das Denkmal für deine Großeltern steht? Das war für mich ein Schlüsselerlebnis, weil ich in diesem Moment begriffen habe, wie sehr ich selbst Rassismus, die Abwertung meiner Großeltern und Eltern als Gastarbeiter*innen, den Ausschluss ihrer und meiner eigenen Geschichte verinnerlicht hatte. Ein Denkmal in deiner Stadt zu haben – und ich rede dabei nicht von einer Statue – ist wichtig, denn dann sehe und weiß ich, dass ich angenommen werde in der Gesellschaft.  Solange es das nicht gibt, werden auch meine Kinder noch denken, dass sie nicht dazugehören und ihre Geschichte nicht zählt. Ich kämpfe dafür, dass diese Geschichte anerkannt wird und zwar nicht nur als Migrationsgeschichte, sondern als Teil der deutschen Geschichte.

Foto: privat

Jacqueline Saki Aslan

ist deutsche Jesidin und Performancekünstlerin. Sie bewegt sich zwischen Migrationsforschung, Kritischer Museologie, Erinnerungskultur und Traumaarbeit mit dem Fokus auf marginalisierte Perspektiven.

Foto: privat

Dîlan Balhan

ist auf St. Pauli in Hamburg geboren und groß geworden. Sie ist Juristin, berät u.a. kriminalisierte und marginalisierte Menschen und ist seit 16 Jahren antirassistisch aktiv.