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|ak 714 | Geschichte

Wärmepumpen statt Kampfjets

Dass eine Waffenfabrik nicht unbedingt Waffen herstellen muss, zeigt ein Blick in die Geschichte

Von Johannes Tesfai

Ein roter Bus auf Schienen
Innovativ und kreativ: Ein von den Lucas-Arbeiter*innen entwickelter Prototyp für einen Straßen-Schienen-Bus wird auf Gleisen erprobt. Foto: Gillett's Crossing / Wikimedia, CC BY 2.0

Die Zeitenwende dieser Tage ist auch ein rüstungspolitisches Konjunkturpaket. Mit tödlichen Waffen macht ein Teil der deutschen Industrie gute Geschäfte. Dass es selbst in Rüstungskonzernen anders zugehen kann, zeigt ein Beispiel aus der britischen Industrie der 1970er Jahre. Lucas Aerospace war im Vereinigten Königreich der 1970er Jahre ein führendes Unternehmen der Luftfahrt- und vor allem Rüstungsindustrie. Ab 1974 führte die Belegschaft eine besondere Auseinandersetzung mit der Konzernführung. Hierbei schlugen die Ingenieur*innen und Arbeiter*innen der Firma einen Plan mit alternativen Produkten vor, die sie anstelle von Rüstungsgütern produzieren könnten.

Die Initiative war aus der Not geboren. Mitte der 1970er Jahre krankte die britische Industrie an sinkender Produktivität. Die großen Unternehmen, zu denen auch Lucas Aerospace gehörte, wollten ihre Gewinne vor allem mit Automatisierung und einem starken Abbau von Arbeitsplätzen wieder steigern. Für die Angestellten von Lucas Aerospace kam hinzu, dass etwa die Hälfte der Aufträge aus dem Rüstungsbereich kam. Mit dem Wahlsieg der Labour Party 1974 setzte im Vereinigten Königreich eine Politik der Abrüstung ein. Ein Auftragseinbruch stand bevor.

Die britische Krise

Die Gewerkschaften waren alarmiert, und die Shop Stewards in dem Rüstungsunternehmen nahmen die Sache selbst in die Hand. Shop Stewards sind das britische Pendant zu den Betriebsräten in Deutschland, allerdings mit weniger rechtlichen Restriktionen. Bei Lucas Aerospace setzten sie sich konzernweit zusammen – das Unternehmen hatte in England 17 Standorte – und begannen, selbst einen Plan zu machen, was für Produkte sie herstellen und entwickeln könnten. Zugute kam ihnen, dass Lucas Aerospace eine große Entwicklungsabteilung mit hoch qualifizierten Ingenieur*innen hatte.


Die Idee der Rüstungskonversion bekam eine praktische Seite.

Mit dieser Idee wurden sie etwa bei dem damaligen Industrieminister, Tony Benn, vorstellig. Der Sozialdemokrat stand dem Anliegen, über die Produktpalette des Unternehmens ernsthaft zu sprechen, aufgeschlossen gegenüber. Er wies die Gewerkschafter*innen aber auf seinen fehlenden Einfluss auf die Entscheidungen des Managements hin. Nachdem der Plan, die eigenen Arbeitsplätze über eine Anrufung der Politik zu retten, scheiterte, begannen die Mitglieder des Combine Comitee, wie das Gremium der Shop Stewards aus allen Standorten hieß, die Angestellten des Unternehmens zu befragen. Das Ergebnis war eindeutig, die Arbeiter*innen wollten sich nicht von Maschinen ersetzen lassen, sondern selbstbestimmt mit neuer Produktionstechnik arbeiten können. Noch erstaunlicher war, dass sie zu den noch immer gewinnbringenden Rüstungsprodukten auf Distanz gingen. Stattdessen wollten sie vor allem »sozial nützliche« Produkte herstellen.

So bekam die Idee der Rüstungskonversion, also die Nutzung von Kapazitäten der Rüstungsindustrie für zivile Zwecke, eine praktische Seite. Sie war zwar aus den Sparplänen im Rüstungsbereich entstanden, aber die Produkte, die die Belegschaft plante und für die sie zum Teil Prototypen anfertigte, zeigten, wie sehr auch die Entwickler*innen und Arbeiter*innen auf der Suche nach sinnvollen Alternativen zu Kampfjets und Raketen waren. Oder, wie es in einer Betriebszeitung von Lucas Aerospace aus jener Zeit hieß: Die Rüstungsarbeiter*innen zeigten, dass sie fähig wären, »menschliche Probleme zu lösen, statt sie erst zu schaffen«.

Museum der Zukunft

Was dort bei Lucas Aerospace an den Entscheidungen des Managements vorbei entwickelt wurde, war eine Mischung aus Sozialutopie und innovativen Ideen. Der Lucas-Plan existiert in einer Kurzform, die um die 50 Seiten umfasst, während die Langfassung über 200 Seiten schwer ist und viele technische Zeichnungen und Fotos von Prototypen enthält.

Die Produktideen aus der Selbstverwaltung waren auch eine stumme Anklage der sozialen Verheerungen in der britischen Gesellschaft dieser Zeit. In den Laboren von Lucas Aerospace wurde etwa ein mobiles Dialysegerät erdacht. In den 1970er Jahren gab es nur stationäre Geräte, und im Vereinigten Königreich starben viele Nierenpatient*innen, weil es nicht genug Dialyseplätze in den Krankenhäusern gab. Die Entwickler*innen versuchten sich aber auch an waghalsigeren Produkten, etwa einer Mischung aus Schienen- und Straßenfahrzeug, wofür sie einen Bus umbauten. Er sollte der Mobilität zwischen Stadt und Land auf die Sprünge helfen und Menschen in der damals akuten Ölkrise weiter von A nach B bringen.

Es gab erste Ideen für einen Motor, dessen Antrieb eine Mischung aus Benzin und Batterie sein sollte. Als Hybridmotor hat er erst viele Jahrzehnte später in einem gewöhnlichen Unternehmen die sogenannte Marktreife erreicht.

Eine innovative Idee fanden die Arbeiter*innen besonders wichtig: eine Art Wärmetauscher, der nach dem Prinzip eines umgekehrten Kühlschranks Innenräume beheizen sollte. Damals starben viele alte Menschen im Vereinigten Königreich in den Wintermonaten, weil sie keine Heizung besaßen und in ihren Wohnungen erfroren. Für dieses Produkt ließen die Entwickler*innen sogar eine Studie zu möglichen Absatzmärkten in Auftrag geben. Diese kam zu dem Ergebnis, dass viele Millionen Britische Pfund mit der Anwendung verdient werden könnten. Die Unternehmensleitung lehnte trotzdem ab. Das Produkt war in den letzten Jahren oft Thema in der deutschen Energiediskussion, heutzutage heißt es Wärmepumpe und gehört zu den umweltschonenden Arten, ein Haus zu heizen.

Trotz dieser erstaunlichen Innovationsoffensive wies das Management die Vorschläge der Belegschaft barsch zurück. Nicht, weil die Produkte keine Chance auf Gewinne versprachen. Im Fernsehen sagte ein Manager von Lucas Aerospace: »Wir sind äußerst unansprechbar gegenüber dem Versuch einer Gruppe von Arbeitern, eine ›de-facto‹-Machtsituation dadurch herzustellen, dass sie eine Reihe von Vorschlägen dazu ausnutzen, das Recht auf Verhandlungen in allen unseren Werken durchzusetzen.« Ganz Unrecht hatte der Manager nicht. Denn den Verfasser*innen des Plans schwebte nicht nur eine Produktpalette jenseits von Kriegsmitteln vor, sondern auch eine Technik, die durch die Arbeiter*innen gesteuert würde und nicht die Arbeit technisch dominierte.

Der wohl bekannteste Ingenieur aus der Lucas-Belegschaft war Mike Cooley. Er ließ sich interviewen, um die Anliegen des Plans im ganzen Land bekannt zu machen. Als Politik und Unternehmen den Lucas-Plan 1976 endgültig ablehnten, veröffentlichte das Combine Comitee ihn. Ihre Pläne sahen die Arbeiter*innen aber nicht als isoliertes Transformationsprojekt der Industrie. Vielmehr sollten die menschenfreundlichen Technikentwürfe die Möglichkeiten einer ökologischen, friedlichen und selbstverwalteten Produktion aufzeigen, wie sie selbst im Plan schrieben. Für sein Engagement wurde Cooley 1981 entlassen. Daraufhin schrieb er ein Buch, in dem er versuchte, eine Arbeitswelt zu zeichnen, die nicht von der Dominanz der Maschinen über die Arbeiter*innen geprägt war, und auch vor der Gefahr der neu entwickelten Computer für die Gesundheit von Beschäftigten warnte. Für seine Arbeit bekam Cooley den Alternativen Nobelpreis. Wenig später begann er, in einer neu geschaffenen Londoner Behörde, die Konzepte für eine humanere Arbeitswelt entwickeln sollte, zu arbeiten. Die konservative Premierministerin Margaret Thatcher ließ die Behörde 1986 schließen. Bekannt wurde Thatcher aber nicht dafür, sondern für ihren Kampf gegen die Gewerkschaften.

Deutsches Echo

In den westdeutschen Gewerkschaften und Belegschaften begann die Debatte um Rüstungskonversion einige Jahre später. Der Historiker Jan Hansen hat erforscht, dass in der Bundesrepublik die Friedensbewegung das Thema durch ihre schiere Präsenz in die Gewerkschaften trug. Einige Funktionär*innen sahen den Platz der Gewerkschaften an der Seite der Friedensbewegung. Jedoch waren sich Belegschaften und Gewerkschaften nicht einig. In Kiel streikten Anfang 1981 Werftarbeiter*innen, weil sie den Bau von U-Booten für das diktatorisch regierte Chile durchsetzen wollten, die IG-Metall-Bezirksleitung war aber strikt dagegen. Das Dilemma zwischen pazifistischer Produktion und Arbeitsplatzerhalt, das die Lucas-Arbeiter*innen mit ihrem Plan angehen wollten, sorgte in Norddeutschland für einen handfesten Konflikt.

Der Lucas-Plan kam vor allem als Thema gewerkschaftlicher Arbeitskreise unter dem Schlagwort »Alternative Produktion« in die westdeutsche Debatte. Die bundesrepublikanische Rüstungsdiskussion wurde durch die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenraketen befeuert. Die Gewerkschaften erkannten die Chance, friedens- und gesellschaftspolitisch zu agieren. Wie Hansen herausfand, gab es sogar Handreichungen aus der IG-Metall-Zentrale, wie diese Arbeitskreise organisiert werden sollten. Während die britischen Arbeiter*innen sich in betrieblicher Selbstermächtigung probierten, war die deutsche Debatte um eine friedliche Produktion stark von gewerkschaftlichen Funktionär*innen geprägt.

Mit dem Fall der Mauer traten die friedenspolitischen Diskussionen in den Betrieben und Gewerkschaften in den Hintergrund. Mit den geopolitischen Verschiebungen ist Aufrüstung wieder Thema, fragt sich nur, ob die Rüstungsbetriebe wieder Orte einer kritischen Öffentlichkeit in Europa und der Welt werden könnten.

Johannes Tesfai

ist Redakteur bei ak.

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