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|ak 687 | Geschichte

Von Bandera zu Mao

Unter ukrainischen Exilant*innen gab es nach dem Zweiten Weltkrieg Versuche, Nationalismus mit Marxismus zu verbinden

Von Ewgeniy Kasakow

Ein weißes Gebäude mit Turm
Im Westen waren die ukrainischen Linksnationalist*innen maßgeblich an der Forschung zur Hungersnot 1933/34 beteiligt. Halle der Erinnerung in Kiew. Foto: Netmate / Wikimedia , CC BY-SA 3.0

1974 erschien in Hamburg der Sammelband »Die linke Opposition in der Sowjetunion. Systemkritik, Programme, Dokumente« – ein Thema, das bei der Studierendenbewegung auf reges Interesse stieß. Das Buch erlebte mehrere Neuauflagen und durfte in keinem linken Buchladen der Bundesrepublik des »Roten Jahrzehnts« fehlen. Der Titel wurde von Borys Lewytzkyj, zur damaligen Zeit ein gefragter politischer Publizist und Ostexperte der Friedrich-Ebert-Stiftung, herausgegeben. Er veröffentlichte zahlreiche Beiträge über die Sowjetunion und in diesem Themenfeld speziell über die Ukraine sowohl in den SPD-nahen Publikationen als auch in Fachzeitschriften wie »Osteuropa« oder »Österreichische Osthefte«. Auch an einer Festschrift für den Antifaschisten Richard Löwenthal beteiligte sich Lewytzkyj neben vielen sozialdemokratischen Intellektuellen. 

Die politische Vergangenheit des gefragten Autors blieb dabei stets im Dunkeln. Dabei konnte der 1915 in Wien geborene Autor auf ein bewegtes Leben zurückblicken – er gehörte zu den wichtigsten Köpfen des ukrainischen Linksnationalismus. In der Nachkriegszeit versuchten er und seine Mitstreiter*innen, den Kampf für eine ukrainische Unabhängigkeit marxistisch zu begründen.

Als Polen 1939 zerschlagen und zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion aufgeteilt wurde, befand sich Lewytzky bereits in den Reihen der Organisation der Ukrainischen Nationalisten (OUN), die den bewaffneten Kampf gegen die Polnische Republik propagierte und sich dabei an den Achsenmächten anlehnte. Innerhalb der zwischen den Anhängern des konservativ-traditionalistischen Flügels um Andrij Melnyk und des nationalrevolutionären Flügels um den Untergrundaktivisten Stepan Bandera gespaltenen OUN schlossen sich Lewytzky und sein politischer Mentor Iwan Mitrynga Bandera an. Doch schon bald übten Mitrynga und Lewytzky Kritik an der Linie der Bandera-Führung. Als eine »Linksabspaltung« der OUN gründete Mitrynga 1941 die Ukrainische revolutionäre Partei der Arbeiter und Bauern, die sich kurz darauf mit anderen Gruppen zur Ukrainischen Volksdemokratischen Partei (UNDP) vereinigte. 1943 fällt Mitrynga, Lewytzky setzt sich zu diesem Zeitpunkt nach München ab.

Eine Spaltung nach der anderen

Doch auch im Bandera-Flügel der OUN und der von ihr gegründeten Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) wurden 1943 Stimmen lauter, die eine Neuorientierung forderten. Funktionäre wie Mychajlo Stepnjak, ein ehemaliger Kader der Kommunistischen Partei der Westukraine, oder der Schriftsteller Iwan Bahrjanyj drängten den Militärführer der UPA und Bandera-Vertrauten Roman Schuchewytsch zu einem radikalen Imagewechsel. Den Faschismus hielt dieser Flügel für immer diskreditiert und suchte nach Möglichkeiten, sich mit den Westalliierten zu verbinden. Doch einen Sinneswandel in der Organisation durchzusetzen gelang der Fraktion nicht. Schon bald schloss die OUN erneut ein Bündnis mit Nazideutschland und konnte auch nach 1945 nie das Image der Kollaborateurin loswerden.

Die Ukrainische Revolutionärdemokratische Partei wollte den Kampf gegen die Sowjetunion mit linken Parolen führen.

Der Melnyk-Flügel der OUN verfügte nach dem Zweiten Weltkrieg über keine bewaffneten Gruppen auf dem sowjetischen oder polnischen Gebiet und entwickelte sich nach und nach zu einer konservativen Partei. Der Bandera-Flügel hielt hingegen noch lange an Guerillakampf und Führerkult fest. Es gab jedoch eine Strömung der OUN-Veteranen, die versuchte, den Linksnationalismus nach dem Ende des Kriegs in ukrainischen Exilkreisen wiederzubeleben. Anhänger der Metrynga-Lewytzky-Fraktion und die Befürworter eines OUN-Erneuerungsprogramm schlossen im August 1947 in München zusammen. Die von ihnen gegründete Ukrainische Revolutionärdemokratische Partei (URDP) wollte den Kampf gegen die Sowjetunion mit linken Parolen führen.

Der sich um die Münchener Zeitschrift »Wpered« (1949-1959) sammelnde linke Flügel der URDP wurde von Lewytzky, dem Historiker Iwan Majstrenko und dem ehemaligen »Ostarbeiter« und Ökonomen Vsevolod Holubnychy angeführt. Dabei bezogen sich die Anhänger explizit auf den Marxismus. Konsens war, dass es nach einer nationalen Erhebung kein Zurück in die vorsowjetischen Zeiten geben dürfe, es sollte ein unabhängiger ukrainischer Sozialismus mit nationalen Besonderheiten aufgebaut werden.

Die BRD als Zentrum

Der ehemalige Sozialrevolutionär Majsternko vertrat die These, »der bolschewistische Bonapartismus« habe einen Staatskapitalismus erschaffen, der ukrainische Ressourcen ausbeute. Dagegen hielt er das Erbe der Agrarrevolten von 1917 hoch. Holubnychy war viel radikaler eingestellt und wollte die Planwirtschaft beibehalten, die er als Fortschritt sah. Er warnte vehement vor der Restauration des Kapitalismus und übersetzte Werke trotzkistischer Autoren wie Tony Cliff und Hal Draper ins Ukrainische. Zugleich berief er sich positiv auf Mao Zedong. Das chinesische Modell fanden die Nationalmarxist*innen passender für agrarisch geprägte Länder, zu der sie auch die Ukraine zählten.

So ist es nicht verwunderlich, dass sich die URDP-Linken für die maoistische Theorie und vor allem für ihr Konzept der national-antikolonialen Befreiung und ihre Kritik des »Sowjetimperialismus« begeisterten. Die negative Bewertung des zaristischen Russlands bei Marx und Engels wurde dem chauvinistischen Russozentrismus der sowjetischen Ideologie entgegengestellt. Der rechte Flügel, geprägt von Iwan Bahrjanyj, blieb hingegen bei seinem gemäßigten linken Antikommunismus. Bahrjanyj und seine Genoss*innen teilten mit den Exilant*innen von »Wpered« die Deutung der Geschichte der OUN/UPA als einen Kampf von unterdrückten Bäuer*innen gegen die Ausbeutung. Aus den Reihen der URDP kamen nicht nur die wichtigen Studien zur Hungersnot 1933/34, sondern auch die Bewertung dieser Ereignisse als »Genozid an den Ukrainer*innen«.

Nicht nur in der Bundesrepublik gab es in der ukrainischen Diaspora linke Tendenzen. So erschien von 1975 bis 1985 in Kanada die Zeitschrift »Dialog«. Ihre Autor*innen wie Marko Bojcun, Bohdan Krawchenko, Halyna Freeland, Roman Senkus, John-Paul Himka, Myroslav Shkandrij versuchten sich in einer theoretischen Verbindung der ukrainischen Nationalbewegung mit den antikolonialen Ideen der Neuen Linken. Im Gegensatz zur Münchener URDP war die Haltung zu OUN-Aktivitäten wesentlich kritischer.

Lewytzky hatte sich allerdings bereits 1956 aus der Exilpolitik verabschiedet. In seinem neuen Leben als sozialdemokratischer Ostexperte beobachte er mit Wohlwollen allerlei Erneuerungsbewegungen, Reformen und Kurswechsel im Ostblock und der kommunistischen Weltbewegung. Nach seinem Tod 1984 wurde seine OUN-Vergangenheit in Deutschland nicht weiter thematisiert.

Wenn heute linke ukrainische Autoren wie Marlen Insarow (Iwan Tschernobor) die Geschichte der OUN und UPA zum antikolonialen Befreiungskampf der ausgebeuteten Bäuer*innen stilisieren, ist das sicherlich Übertreibung und Geschichtsklitterung. Doch dass es in den Reihen der OUN einen regen Wechsel von links nach rechts und zurück gab, sollte nicht von der linken Geschichtsschreibung ignoriert werden.

Ewgeniy Kasakow

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven.