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Was bringt das alles?

Der Film »Vergiss Meyn nicht. Nur dein Leben steht dagegen« gibt Einblick in Besetzung und Räumung des Hambacher Forsts und beleuchtet Widersprüche des Aktivismus

Von Ulrike Wagener

360-grad Bild eines Waldes, im Zentrum Steffen Meyn, der ernst in die Kamera schaut und einen Helm hält, auf dem die Kamera sitzt.
Im Film »Vergiss Meyn nicht« greifen Steffen Meyns Kommiliton*innen seine Arbeit auf und widmen ihm ein Porträt. Foto: © MADE IN GERMANY

Am Anfang stirbt Steffen Meyn. Ein Aufprall, Polizist*innen rennen, im Hintergrund sind Stimmen zu hören: »Alles wegen euch, ihr seid Mörder!« Es ist der 19. September 2018. Der 27-jährige Filmstudent Steffen Meyn fällt bei einer Räumungsaktion der Polizei im Hambacher Forst aus fast 20 Metern Höhe von einer Hängebrücke. Stellvertretend für seinen Körper sehen wir seine 360-Grad-Kamera, wie sie von Polizist*innen inspiziert und als Beweismaterial eingetütet wird. Die Räumung, angewiesen von der NRW-Landesregierung unter Armin Laschet (CDU), wird später vom Verwaltungsgericht Köln für rechtswidrig erklärt werden, Brandschutz sei als Grund nur vorgeschoben gewesen.

Die Macher*innen von »Vergiss Meyn nicht. Nur dein Leben steht dagegen« – Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff – haben sich bewusst dafür entschieden, den Tod ihres Freundes und Kommilitonen auf der Leinwand vorwegzunehmen. Premiere feierte der Film im Februar auf der Berlinale in der Sektion »Perspektive Deutsches Kino«. Im September kommt er in die Kinos. »Jede Person, die in diesen Film geht, weiß, dass Steffens Tod vorkommen wird. (…) Wir wollten niemanden auf die Folter spannen.« Nur so sei der Raum entstanden, auch auf andere Themen eingehen zu können, erklären sie.

Andere Themen, das ist Meyn, wie er seinen WG-Mitbewohner*innen stolz die neue Kamera präsentiert. Das sind Dosensuppen in einem Baumhaus auf 20 Meter Höhe. Das sind brennende Barrikaden, Kohlebagger und Polizeigewalt. Aus stundenlangem Videomaterial aus zwei Jahren ist nicht Meyns geplante Abschlussarbeit über die Besetzung im Hambacher Forst geworden, sondern ein im Kollektiv entstandener Dokumentarfilm über (Klima)-Aktivismus und ein bewegendes Porträt von Steffen Meyn. Die dokumentierenden Aufnahmen Meyns werden ergänzt durch retrospektive Interviews mit seinen Protagonist*innen, den Menschen, denen er im Hambi begegnete, die er bewunderte und zu denen er auch immer versuchte, eine kritische Distanz zu wahren. Er selbst bezeichnet sich in den Filmaufnahmen als »Presse und Freund«, niemals als Aktivist.

Der Film beschäftigt sich mit immer wiederkehrenden Fragen des Aktivismus, die durch die brutale Räumung von Lützerath für die Kohleindustrie im Januar dieses Jahres neue Aktualität erhalten haben: Was bringt das alles? Hält man es friedlich oder militant? Sollte man das eigene Leben »für die Sache« riskieren? Lohnt es sich? »Ich glaube, ich bin die falsche Person, das gefragt zu werden, weil ich am Leben bin und gesund bin«, sagt eine Aktivistin im Gespräch. Einfache Antworten liefert der Film nicht. Auch nicht auf die Frage, wer Schuld hat am Tod von Steffen Meyn.

Die Kamera sitzt fast immer auf Meyns Kopf, befestigt an einem Fahrradhelm. Man sieht alles aus seiner Perspektive.

Die Kamera sitzt fast immer auf dem Kopf von Meyn, befestigt an einem Fahrradhelm. Das hat den Effekt, dass die Zuschauerin alles aus seiner Perspektive sieht. Man bekommt das Gefühl, dabei zu sein, wenn er in schwindelerregenden Höhen über eine Brücke balanciert, sich mit Aktivist*innen unterhält oder wenn Polizist*innen der Presse die Sicht versperren. Meyn nimmt sich und sein Projekt ernst, nimmt sich Zeit für die Menschen, die er trifft. Lässt sich nicht verunsichern. Er ist sich nicht zu schade, Fragen zu stellen, deren Beantwortung seinem Gegenüber selbstverständlich vorkommen könnten, etwa die, warum einige der Besetzer*innen vermummt sind.

Man kann ihm dabei zusehen, wie er zaudert, mit dem Wald und dem Aktivismus, mit der Gewalt. Als die Aktivist*innen nach der Rodung eines anderen Waldabschnitts die Straße verbarrikadieren, gibt es Streit über die ewige Frage von Militanz. Insbesondere in der Klimabewegung gibt es eine große Strömung, die zivilen Ungehorsam friedlich halten will. Und regelmäßig gibt es von außen Versuche – zuletzt wieder massiv anlässlich der Räumung in Lützerath –, Proteste als illegitim zu brandmarken, sobald der erste Stein geflogen ist. Systemische Gewalt durch Polizei und den Kohlekonzern RWE wird normalisiert. »Ich finde es richtig schade, weil am Ende nur über die Gewalt geredet wird und alle sich zu der Gewalt positionieren müssen, ob sie die gut oder schlecht fanden. Aber der Punkt ist eigentlich, dass man uns spalten möchte«, sagt ein Aktivist im Film.

Über die interviewten Aktivist*innen – sie nennen sich Alaska, Diam, Frodo, Lilie, Lola, Tuk und Wo – erfährt man nichts, keine Klarnamen, keinen Wohnort. Nur Kleidung, Umgebung und Habitus scheinen etwas über sie zu erzählen: Kinderspielzeug, ein Klavier, eine Matetasse, feministische Banner, Bücher, Wald. Aber vielleicht auch nicht. Das schützt sie vor Polizei und Gefängnis, bietet aber auch einen Raum, über politische Ziele und Träume zu sprechen.

»Vergiss Meyn nicht. Nur dein Leben steht dagegen« ist ein Film für Aktivist*innen oder solche, die es werden wollen. Er ist eine Hommage an Steffen Meyn. Er ist aber auch ein Film für Menschen, die mit der Klimabewegung nichts am Hut haben und sich aufregen über die »Klima-Kleber«. Trotz der Anonymität gibt er den Aktivist*innen Gesicht und Herz zurück, ohne sie zu verklären. Sie zu entmenschlichen sollte nach dem Kinobesuch zumindest schwerer fallen.

Porträt von Ulrike Wagener

Ulrike Wagener

ist freie Journalistin und befasst sich mit den Themen Flucht und Migration, Gender und (Post-)Kolonialismus.

»Vergiss Meyn nicht. Nur dein Leben steht dagegen«. Deutschland 2023, 100 Minuten. Kinostart: 21. September.