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Tunesischer Aufschrei

Aufgeblättert: »Ich kann nicht alleine wütend sein« herausgegeben von Leonie Nückell

Von Ruben Schenzle

In meiner Kehle sitzt ein Stamm von Frauen«, bringt die Dichterin Amal Khlif Claudel auf den Punkt, was die vorliegenden Gedichte, Essays und Kurzprosatexte bieten. Eine Auswahl aktueller Stimmen, die sich im Namen der Frau und anderer von männlicher Vorherrschaft Unterdrückter zu Wort melden. In dem titelgebenden kurzen Text kommt aber auch die Zweischneidigkeit dieses Unterfangens zum Ausdruck. Denn gerade im tunesischen Kontext, wo die rechtliche Gleichstellung in vielen Bereichen früh vollzogen wurde, ist die Frau nicht einfach unterworfen und ohne Stimme, sondern viel zu oft fügsam. In der Kehle Claudels steckt also ein Schrei nach Freiheit, der nicht allein stellvertretend, sondern gerade auch aufrüttelnd an die Genossinnen des eigenen Geschlechts gerichtet ist. Die meisten der versammelten Autorinnen kamen erst durch ihren Aktivismus in den Tagen des tunesischen Aufstands zum Schreiben. Manche ihrer Zeilen haben »Kein Streben keinen Traum keine Zukunft«, andere zeugen nackt von »blauen Malen« oder schäumen lustvoll wie glühende Gischt »an der Wange des Vulkans«. Humoristischen Gedankengängen geben sie sich ebenso hin wie nachdenklichen Reflexionen, kommen vom Persönlichen zum Allgemeinen und kehren so eine unbeugsame Selbstachtung hervor. Die Offenherzigkeit, mit der die Autorinnen Intimstes thematisieren, stellt noch immer einen Tabubruch dar – ein revolutionäres Moment sozusagen auch für das postrevolutionäre Tunesien.

Leonie Nückell (Hg.): Ich kann nicht alleine wütend sein. Feministische Autorinnen in Tunesien. Schiler&Mücke, Berlin/Tübingen 2020. 114 Seiten, 14 EUR.