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Der Menschheit auf den Grund geschaut

Mario Keßler führt in eine Auswahl an Schriften, Briefen und Interviews Leo Trotzkis ein, in denen dieser Judenhass analysierte – und den Holocaust vorhersah

Von Nelli Tügel

Trotzki mit Freund*innen im Jahr 1933, als auch der in der neuen Weltbühne publizierte Text »Porträt des Nationalsozialismus« entstand. Foto: gemeinfrei

Als der Suhrkamp-Verlag vor etwas mehr als zehn Jahren die deutsche Übersetzung einer Trotzki-Biografie aus der Feder des britischen Historikers Robert Service ankündigte, formierte sich dagegen Protest. Ein wesentlicher Vorwurf lautete, Service reproduziere bei der Darstellung des Revolutionärs antisemitische Ressentiments, mit denen Trotzki zu Lebzeiten geschmäht wurde.

Einer derjenigen, die damals den Protest-Brief an Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz unterzeichnet hatten, ist der Historiker Mario Keßler. Er hat nun ein Büchlein im Dietz-Verlag herausgegebenen, das die Rolle des Kampfes gegen Antisemitismus in Trotzkis Leben und Schriften zum Inhalt hat. Mit einem längeren Aufsatz führt Keßler dort in eine Textsammlung ein, in der einige bereits bekannte (wie »Porträt des Nationalsozialismus«), aber auch bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt gewesene Schriften Trotzkis sowie Interviews mit ihm zum Antisemitismus und zur »jüdischen Frage« (die Frage einer jüdischen Heimstätte) zusammengestellt sind.

Das erscheint auf den ersten Blick ungewöhnlich, denn der Text ist in einer Reihe (»Miniaturen«) erschienen, in der normalerweise ohne speziellen Fokus Leben und Werk einer Persönlichkeit der Arbeiter*innenbewegung vorgestellt werden. Muss dann ausgerechnet der wohl bekannteste Kommunist des 20. Jahrhunderts jüdischer Herkunft, der selbst, wie Keßler schreibt, auf entsprechende Fragen stets antwortete »Ich bin kein Jude, ich bin Internationalist« daraufhin untersucht werden, inwiefern »persönliche Erfahrungen in Beziehung zu seinen Analysen des Antisemitismus« stehen? Keßler meint ja, er legt darüber zu Beginn seines Textes Rechenschaft ab. Und tatsächlich funktioniert das Vorhaben ziemlich gut.

Roter Faden der Solidarität

Der Antisemitismus und seine Bekämpfung waren lange keine zentralen Themen in Trotzkis Schriften, hatten diesen aber, wie Keßler zeigt, durchaus immer wieder beschäftigt; es gebe einen über Jahre und Jahrzehnte sich durchziehenden »roten Faden (der) Solidarität mit den doppelt ausgegrenzten, unterdrückten und verfolgten jüdischen Arbeitern, Handwerkern und Bauern« in Trotzkis Hinterlassenschaft.

Zum prominenten Gegenstand seiner Analysen wurde Antisemitismus indes erst in den späten Texten, denen der 1930er Jahre, die Keßler besonders hervorhebt: »Wohl niemand sonst sah damals so klar wie Trotzki und seine Anhänger die entsetzliche Möglichkeit, dass die organisierte Barbarei der Nazis im Holocaust gipfeln würde«, schreibt er. Wie nur sehr wenige Zeitgenossen habe Trotzki »der Menschheit auf den Grund geschaut« (Norman Geras).

Dabei griff der 1879 in der Südukraine geborene spätere Bolschewik bei der Untersuchung des Antisemitismus, seiner Funktionsweise und Mobilisierungskraft zurück auf die Erfahrungen in Russland – nach der Revolution von 1905, als die Reaktion in Gestalt der antisemitischen Schwarzhunderter Pogrome an Juden beging, und vor allem aus dem der Oktoberrevolution folgenden Bürgerkrieg, in den Trotzki als Chef der Roten Armee maßgeblich involviert war. Keßler unterschlägt nicht, dass Trotzki sich in diesen Jahren dem von ihm davor und danach kritisierten Autoritarismus bediente, er verweist auf Kronstadt ebenso wie auf die Zerstörung auch jüdischen Gemeindewesens im Rahmen des Kampfes gegen die Religion.

Zugleich richtet Keßler den Blick darauf, wie die Gegenrevolution im Bürgerkrieg systematisch Antisemitismus schürte und einsetzte, und wie die Rote Armee (auch wenn acht Prozent der in dieser Zeit verübten antisemitischen Pogrome auf ihr Konto gingen) als Schutz vor diesen Massakern wahrgenommen wurde. Er liefert damit auch eine Erklärung, weshalb sich im Verlauf des Bürgerkrieges viele Juden den Bolschewiki anschlossen. »So wie der von den Bolschewiki ausgeübte revolutionäre Terror und die rigorose Ausgrenzung anderer linker Parteien viele jüdische Linke zunächst in die Opposition getrieben hatte, führten dann die Pogrome und die antisemitische Mobilisierung der Bevölkerung oft zur Ernüchterung und zur Parteinahme für die Bolschewiki. Der Rote Terror Lenins und Trotzkis rettete mitsamt seiner Grausamkeit das bolschewistische Regime und das Leben Hunderttausender Juden.«

»Der Rote Terror Lenins und Trotzkis rettete mitsamt seiner Grausamkeit … das Leben Hunderttausender Juden.«

Mario Keßler

Einladung nach Palästina

Der militärische Sieg und das Überleben des Sowjetstaates beendeten dort aber keineswegs den Antisemitismus, wie Trotzki später am eigenen Leib erfahren musste, als die stalinistische Vernichtungswut gegen ihn, seine Familie (alle Kinder Trotzkis, vier seiner sechs Enkel sowie seine frühere Frau fielen ihr zum Opfer) und seine vermeintlichen oder echten Anhänger*innen tobte und die begleitende Hetze zunehmend judenfeindliche Züge annahm. Eine Vernichtungswut, die schließlich auch Trotzki selbst das Leben kostete, der 1940 in Mexiko von einem Agenten erschlagen wurde. Drei Jahre zuvor hatte ihn dort Beba Idelson besucht, die der linkszionistischen Partei Achdut Haavoda angehörte – und Trotzki überzeugen wollte, nach Palästina zu gehen. Er tat es nicht, den Zionismus hielt Trotzki für eine Falle.

Schon Anfang des 19. Jahrhunderts hatte er die zionistische Bewegung mit polemischer Kritik bedacht. Dreißig Jahre später äußerte er sich weniger rabiat, aber blieb dabei: »Ich glaube keineswegs, dass die jüdische Frage im Rahmen des verrottenden Kapitalismus und unter der Kontrolle des britischen Imperialismus gelöst werden kann«, erklärte er im Januar 1937 in einem Interview mit jüdischen Journalisten, das zu den in dem Buch versammelten Originaldokumenten gehört. Gegner eines jüdischen Staates oder autonomen Territoriums war Trotzki gleichwohl nicht, so unterstützte er beispielsweise die Idee, »in Birobidshan einem Teil der sowjetischen Juden auf freiwilliger Basis die Gelegenheit zur nationalen Konstituierung zu geben«. Letztlich aber sah Trotzki – da blieb er sich bis zum Ende seines Lebens treu – die Lösung der »jüdischen Frage« ebenso wie die Bekämpfung des Antisemitismus als Aufgabe einer Weltrevolution: Weder dem Stalinschen »Sozialismus in einem Land« noch dem Kapitalismus traute er zu, ihn zu überwinden, im Gegenteil.

Keßler konstatiert am Ende seines Aufsatzes, Trotzkis Schriften zu Faschismus und Antisemitismus besäßen auch heute noch Relevanz. Warum dies so ist, stellt er in einem zwar äußerst dicht, aber dennoch gut lesbaren Text dar; vor allem aber kann sich jede*r mit der Lektüre der versammelten Originaltexte selbst davon überzeugen.

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.

Mario Keßler (Hg.): Leo Trotzki oder: Sozialismus gegen Antisemitismus. Dietz-Verlag, Berlin 2022. 190 Seiten, 12 EUR.