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|ak 713 | Alltag |Kolumne: Torten & Tabletten

Mord und Mitleid

Von Frédéric Valin

Im Februar dieses Jahres wurde eine 57-jährige Frau vom Landgericht Oldenburg verurteilt, ihren Sohn umgebracht zu haben. Die Frau wollte sich offenbar in einem abgedichteten Wohnwagen zusammen mit ihrem Sohn mittels Kohlenmonoxidvergiftung töten. Der Sohn war pflegebedürftig – nach einem Umzug in eine neue Wohngruppe soll er auch verstärkt aggressives Verhalten gezeigt haben. Unter anderem soll er einer Pflegerin zwei Zähne ausgeschlagen haben. Da er nicht mehr in der Wohngruppe bleiben konnte, sah die Mutter – so argumentierte die Verteidigung – keinen anderen Ausweg, als sich zusammen mit ihrem Sohn zu töten. Sie gab an, auch Angst zu haben, dass er andere erheblich verletzen würde.

Die Staatsanwaltschaft stellte klar, dass die Schilderungen der Mutter auch sie überzeugte. In ihrem Plädoyer forderte sie drei Jahre Haft wegen heimtückischen Mordes bei verminderter Schuldfähigkeit und stellte klar: »Ich habe nicht das Bedürfnis, Sie zu bestrafen. Ich erkenne Ihre Not, aber ich erkenne auch, dass hier ein Menschenleben ausgelöscht wurde.« Es sei ein Grenzfall. Das Gericht folgte der Argumentation und verurteilte die Wilhelmshavenerin zur Mindeststrafe: eben drei Jahre.

Es gibt hier aus Behindertenrechtsperspektive einiges zu erläutern: Erstens ist dieses Urteil nur bedingt paradigmatisch für den Umgang mit dergleichen Morden in der Gesellschaft. Im September 2024 wurde ein deutsches Ehepaar in der Schweiz zu je acht Jahren verurteilt, weil es die behinderte dreijährige Tochter getötet hatte. Große Aufmerksamkeit erhielt der Hungermord am neunjährigen Marcel, für den die Mutter – um ihm weiteres Leid zu ersparen – 2012 zu neun Jahren verurteilt wurde. Das sind zugegebenermaßen relativ willkürlich herausgepickte Beispiele, die zu vertiefen sich lohnen würde. Klar ist allerdings, dass in der Strafbemessung die persönliche Lage immer objektiviert wird. Und immer auf Kosten der Behinderung.

Behinderung hat in der Rechtsprechung zwei wesentlich Aspekte: Sie ist Bürde (vor allem für die Angehörigen), und gleichzeitig ist sie zu akzeptierendes Schicksal. In ihren Plädoyers verzichten Staatsanwaltschaften selten darauf, ihr Mitgefühl für die Täter*innen auszudrücken. Ein behindertes Kind zu haben, ist immer Anlass, Mitleid zu zeigen, um sich der eigenen Menschlichkeit zu versichern.

Eine weitere Ebene sind die gewählten Tötungsmethoden: Kohlenstoffmonoxidvergiftung, Verhungern lassen. Das sind Methoden aus der Euthanasie-Geschichte, die behinderte Menschen unbedingt triggern; sie sind aber für die Allgemeinheit mehr (Verhungern lassen) oder weniger (CO-Vergiftung) schlimm. Interessant daran ist, wie das Gedenken der verschiedenen Vernichtungsaktionen gegen sogenanntes lebensunwertes Leben sich hier quasi gegenspiegelt: Wenn jemand schon von den Euthanasiemorden gehört hat, dann von der Aktion T4, dem systematischen NS-Massenmord an mehr als 70.000 Menschen mit Behinderung – selten aber von der sogenannten »wilden Euthanasie«, also dem dezentralisierten Morden, das weit mehr Opfer forderte.

Eine weitere Frage wäre: Stehen die Richtigen vor Gericht? Müssten da nicht viel mehr Leute stehen? Ist das Strafrecht überhaupt der richtige Ort, das zu verhandeln? Müsste man nicht den Staat verklagen können, zu wenig Unterstützung zu gewähren, trotz seiner rechtlich bindenden Selbstverpflichtungen (schließlich hat er ja die Behindertenrechtskonvention unterzeichnet)? Denn ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen: Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.

Fortsetzung folgt.

Frédéric Valin

ist Autor. In ak schreibt er die Kolumne »Torten & Tabletten«. Zuletzt erschien sein autobiografischer Roman »Ein Haus voller Wände« (Verbrecher-Verlag 2022) über seine Arbeit als Pfleger.