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Streiken wie in Deutschland

Zwei Neuerscheinungen liefern wertvolle Hintergründe zur bundesrepublikanischen Arbeitskampfgegenwart

Von İnci Arslan

Laufende Personen mit ver.di-Fahnen und einem Verdi-Transparent.
Besonders in sogenannten frauendominierten Berufen wurde in den vergangenen Jahren vermehrt gestreikt. Foto: Klasse gegen Klasse

Die deutsche Linke ist nachhaltig gelähmt, doch zum Gesamtbild des zurückliegenden Jahres gehört auch, dass streikende Lohnabhängige – vor allem in der ersten Jahreshälfte – ungewöhnlich viel von sich reden machten. Beim »kleinen Generalstreik« im März legten mehr als 100.000 gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte bundesweit den Verkehr still. Das erste Mal in der jüngeren Arbeitskampfgeschichte des Landes streikten dafür Mitglieder zweier Gewerkschaften – von ver.di und der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG –, die in verschiedenen Tarifauseinandersetzungen stecken, ganz bewusst zusammen. Insgesamt streikten allein bei Warnstreiks im Rahmen der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes (TVöD) mehr als eine halbe Million Lohnabhängige.

Es gab eine spürbare Politisierung der Auseinandersetzung, etwa einen gemeinsamen Streiktag von Kolleg*innen des öffentlichen Nahverkehrs und Fridays for Future sowie einen Streiktag von Kita-Erzieher*innen am 8. März. Bei der Post wurde ein Erzwingungsstreik abgewendet – Forderungen von diversen Lobbyorganisationen der Kapitalist*innen, die am liebsten das Streikrecht weiter verstümmelt sähen, waren dennoch vielfach zu hören. Passend zum Jahr geht dieses nun mit weiteren Warnstreiks von Beschäftigten der Länder (TV-L) und einer voraussichtlich harten Runde zwischen der Bahn und der Gewerkschaft der Lokführer (GDL) zu Ende. »Entwickeln die Deutschen gerade eine neue Streikkultur?«, fragte der MDR daher erst kürzlich wieder. Eine Frage, die im Frühjahr Aktive wie Medien bereits intensiv beschäftigt hatte.

Eine Minderheitenerfahrung

Wer auf solche Fragen fundierte, Daten-basierte Antworten sucht und an der Einordnung des zurückliegenden Jahres in die vergangenen zwei Jahrzehnte interessiert ist, wird im kürzlich bei VSA erschienenen Grundlagen- und Überblickswerk »Streik – Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000« von Heiner Dribbusch fündig, der von 2003 bis 2019 als Arbeitskampfexperte am WSI der Hans-Böckler-Stiftung tätig war. Jede Art von Romantisierung des Kampfmittels Streik – er nennt es Überhöhung – geht dem Autor ab. Dafür liefert er Fakten.

Die große Mehrheit der abhängig Beschäftigten hat noch nie im Leben gestreikt.

Zur Frage, ob sich die Streikkultur der Deutschen ändere, etwa diese: Dass die Bundesrepublik ein im internationalen Vergleich eher streikarmes Land ist, sei »seit Mitte der 2000er-Jahre nur noch bedingt richtig. Seither verging, mit Ausnahme der Lockdowns zu Beginn der Corona-Pandemie, kaum eine Woche, ohne dass sich Beschäftigte und ihre Gewerkschaften irgendwo im Arbeitskampf befanden«, so Dribbusch. Eine, wie er betont, lückenhafte amtliche Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) verzeichne für den Zeitraum von 2000 bis 2021 knapp 15.500 Betriebe, in denen gestreikt wurde. Zugleich gilt aber auch: Streik ist nach wie vor eine »Minderheitenerfahrung«. Die übergroße Mehrheit der abhängig Beschäftigten – 89 Prozent bei den Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern und 51 bei den Gewerkschaftsmitgliedern – hat noch nie im Leben an einem Streik oder Warnstreik teilgenommen. Dieser Befund hat sich heute im Vergleich zu den 1980er Jahren kaum verändert.

Und der politische Streik?

Neue deutsche Streikkultur? Die Antwort darauf ist also eine ambivalente. Dass Streikkultur zudem gar nicht so viel mit »Kultur« zu tun hat, aber viel mit dem Streikrecht und dieses in der Bundesrepublik im Vergleich etwa zu Frankreich stark begrenzt ist, das wird bei Dribbusch angeschnitten. Vertiefend ausgeführt wird das Thema politischer Streik im Rahmen der deutschen Rechtsprechung von Theresa Tschenker in ihrer ebenfalls kürzlich bei Dunker & Humblot publizierten Doktorarbeit. Tschenker geht darin der Frage nach, wieso die deutsche Rechtsprechung politischen Streik als illegal behandele und rollt die maßgeblich auf die 1950er Jahre, einen großen Zeitungsstreik 1952 sowie den am Bundesarbeitsgericht tätigen Nazi-Richter Hans-Carl Nipperdey (Präsident des BAG zwischen 1954 und 1963) zurückgehende derartige Rechtsauslegung auf. Die Juristin argumentiert, dass das Grundgesetz politischen Streik durchaus abdecke.

Ihr Thema, die Erweiterung des deutschen Streikrechts, ist eines, das in den vergangenen Jahren – wie auch der Streik selbst – wieder vermehrt auf die Tagesordnung etwa von gewerkschaftlich Aktiven, aber auch solchen Beschäftigten (wie den Ex-Gorillas-Ridern), die sich von den deutschen Gewerkschaften eher nicht repräsentiert sehen (ak 696), gekommen ist. Dieser Umstand ergibt sich etwa daraus, dass vermehrt Beschäftigtengruppen ihren Anliegen nur durch ein erweitertes Streikrecht Geltung verschaffen könnten – oder illegal streiken müssen. Dass das Thema brennt, zeigt zum Beispiel die vor einem knappen Jahr erfolgte Gründung der Kampagne für ein umfassendes Streikrecht (ak 690). Für solche Aktiven dürfte sowohl Theresa Tschenkers Arbeit, als auch jene von Heiner Dribbusch, eine Menge wertvoller Zahlen, Fakten und Argumente liefern. Auch wenn beide Bücher auf ihre Art jeweils ganz schöne »Brocken« und nicht dazu geeignet sind, sie mal eben locker weg zu lesen – 2023 hat nicht nur den Erfahrungsschatz von Hunderttausenden Beschäftigten um Streiks erweitert, sondern ebenso die Bibliothek des Arbeitskampfes.

İnci Arslan

ist Autorin und Aktivistin aus Berlin.

Theresa Tschenker: Politischer Streik – Rechtsgeschichte und Dogmatik des Tarifbezugs und des Verbots des politischen Streiks. Duncker & Humblot, Berlin 2023. 358 Seiten, 109,90 EUR.

Heiner Bribbusch: Streik – Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000: Daten, Ereignisse, Analyse. VSA Verlag, Hamburg 2023. 376 Seiten, 29,80 EUR.