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|ak 662 | Alltag |Reihe: Alltagstest

Spießrutenlauf für Quereinsteiger

Von Elena Schmidt

Wenn Medikamente hergestellt werden, geschieht das mit einem bestimmten Zweck für eine bestimmte Gruppe von Patient*innen. Werden sie anders genutzt, heißt das offiziell Off-Label Use. Jedes Hormonpräparat, das in deutschen Arztpraxen einer trans Person verschrieben wird, ist off-label. Es gibt keine Medizin, die speziell auf unser Wohl ausgerichtet wäre. Es ist einfach keine Priorität, spezielle Therapien nur für unsere Bedürfnisse zu entwickeln. Die Priorität liegt immer auf der schützenswerten Mehrheit.

Es geht nicht darum, dass trans Menschen transspezifische Behandlungen erhalten. Es geht darum, dass cis Menschen diese Behandlungen nicht aus Versehen erhalten. Diese Prioritätensetzung hat fatale, menschenunwürdige Konsequenzen.

Eine Analogie: Nehmen wir mal an, ich habe eine Blinddarmentzündung und brauche einen chirurgischen Eingriff. Der Chirurg schickt mich ohne Eingriff in eine Zwangstherapie. Ich solle erst einmal ein bis zwei Wochen lang »beweisen«, dass ich ein Leben ohne Schmerzen unter meiner Bauchdecke führen könne.

Solange die fiktive Situation (als cis angenommene) Menschen betrifft, wäre sie »grausam«, »unzumutbar«, »menschenunwürdig«. Sind die Patient*innen trans, heißt diese Situation »Alltagstest« und ist real. Keine Ausnahme, sondern die Regel. Bevor der Alltagstest abgeschlossen ist, werden keine transspezifischen Behandlungen durchgeführt. Und das nicht tage-, sondern monatelang.

Im Fall einer trans Frau heißt das: keine Hormonbehandlung, keine Bartentfernung, kein Stimmtraining. Dafür aber Outingzwang vor Leuten in allen Bereichen deines Lebens, die dich wegen der noch fehlenden Dokumentänderung aber weiterhin als Mann behandeln dürfen – und sogar sollen. Wer am Ende dieser Zeit weder an innerem noch äußerem Druck kaputt gegangen ist, darf sich dann um medizinische Behandlung kümmern – wenn nicht Krankenkasse oder Therapieperson noch ein willkürlicher Grund dagegen einfällt.

»Falsche« Unterwäsche, zum Beispiel. Der Mensch, der über deine medizinische Versorgung entscheidet, will wissen, was du gerade anhast. Lässt du die Hosen runter, oder lebst du mit den Repressalien? Suizidalität ist übrigens ein Grund, die Behandlung vorzuenthalten. Selbst dann, wenn sie unmittelbar aus der Vorenthaltung der Behandlung resultiert. Wie viele Menschen wir durch diese Praxis verloren haben, ist nicht auszumalen.

Trans Menschen beschreiben oft bereits nach wenigen Tagen Hormonbehandlung enorme Veränderungen – weit vor den körperlichen kommen die emotionalen. Häufig wird diese Veränderung mit dem Wechsel von Schwarz-Weiß- zu Fabrsicht verglichen. Wir entdecken eine emotionale Tiefe, die vorher nie möglich war. Wer wissen will, wie es den Patient*innen vorher geht, muss sich die Entwicklung nur umgekehrt vorstellen – und merkt dann hoffentlich, wie grausam der Alltagstest ist.

Warum die Schikane? Um cis Menschen davon abzuhalten, transspezifische Behandlungen anzufangen.

Eine Risikoabschätzung: Was passiert, wenn Hormontherapie »zu leichtfertig« ausgegeben wird? Cis Menschen nehmen ein paar Tage Medikamente und setzen sie dann wieder ab. Ein paar Tage schlechte Laune, verschwendetes Geld für die Zuzahlung, aber keine dauerhaften Schäden.

Die Folge von verwehrter Hormontherapie sind unbehandelte, tote trans Menschen. Beerdigungen, Schuldgefühle, Ohnmacht. Eine Community, über der immer das Wissen um die Gefahr des Suizids hängt. Hormonersatztherapie braucht sehr lange, um die gewünschten körperlichen Ergebnisse wie Brustaufbau zu erzielen.

Trans Menschen haben daher das verständliche Bedürfnis, die medikamentöse Behandlung so schnell wie möglich zu beginnen – ob mit Herrn Spahns Segen oder ohne. Nicht wenige trans Menschen verwenden daher Hormonerpräparate aus Grau- oder Schwarzmärkten, ohne medizinische Begleitung. In Google Translate kopiert und trotzdem nur halb zu entziffern, bietet die medizinische Beratung durch dubiose Onlineshops immer noch eine sicherere Versorgung als der offizielle Weg durchs Gesundheitssystem. Doch davon Gebrauch zu machen, ist ein Akt der Verzweiflung.

Wir brauchen dringend eine Versorgung ohne psychologische Pathologisierung, in der wir nicht einem Spießrutenlauf zur Belustigung unserer Therapieperson bei Bedrohung unserer Leben ausgesetzt sind. Der Alltagstest tötet, und der Großteil der Bevölkerung weiß nicht einmal davon. Er muss abgeschafft werden, ersatzlos.

Elena Schmidt

Elena Schmidt, 24, ist trans und glücklich verlobt.