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|ak 664 | Alltag

Die erfasste Stadt

Die »Smart City« verwischt die Grenze zwischen Infrastruktur und Überwachung, wie Beispiele aus den USA zeigen

Von Jathan Sadowski

Illustration einer geschäftigen Straße mit Roboter-Polizeihunden und Essenslieferenten.
Überall Freunde und Helfer: Die digitale Stadt könnte ein ziemlicher Alptraum werden. Illustration: Maik Banks

In unserem Alltag begegnet uns ständig irgendwelches smartes Zeug – smarte Kühlschränke, smarte Zahnbürsten, smarte Schlösser, smarte Was-auch-immer. Diese ganze Smartness besteht für gewöhnlich darin, ein vormals dummes Ding mit Sensoren zur Datenerfassung, mit Software für deren algorithmische Verarbeitung sowie mit Internetfähigkeit auszustatten, damit es ständig mit anderen Dingen kommunizieren und von seinen Besitzer*innen, von seinen Hersteller*innen und von Hacker*innen ferngesteuert werden kann.

Was aber bedeutet es, eine ganze Stadt »smart« auszurüsten? Das Modell des smarten Urbanismus war von Anfang an ein ambivalentes Projekt. Stadtplanung, so lautet das zentrale Versprechen, erhält ganz neue Handlungsmöglichkeiten, wenn die Stadt erst in einen Nexus aus Echtzeitdaten zu jedem Aspekt städtischen Lebens sowie des Verhaltens ihrer Einwohner*innen verwandelt worden ist. Urbane Infrastruktur ließe sich optimieren, indem man einfach überall Sensoren hinklatscht und alles in einem zentralisierten Netzwerk zusammenführt. Zur vollen Entfaltung würde das Modell ausgerechnet unter den Bedingungen fiskalischer Austerität und verschärften Wettbewerbs gelangen, da mit ihm der Unternehmergeist Einzug ins Stadtparlament hielte. Letztlich verheißt das Modell, in den Worten von Ginni Rometty, Aufsichtsratsvorsitzende von IBM (1), eine »Forcierung wirtschaftlichen Wachstums und gesellschaftlichen Fortschritts«.

Polizeiliche Kommandozentralen

Die »Smart City« sollte als soziotechnische Chimäre verstanden werden, das heißt als die Vorstellung und Durchsetzung einer gewünschten Zukunft mithilfe von Technologie. Mit ihr soll ein gesellschaftlicher Wandel herbeigeführt werden, der ganz auf ein bestimmtes Modell von städtischer Entwicklung und Verwaltung ausgerichtet ist. In dieser Vorstellung werden Städte mithilfe datengestützter Entscheidungsprotokolle gelenkt, in Echtzeit überwacht in zentralisierten Kontrollräumen und in schlanke, schlagkräftige urbane Wachstumsmaschinen verwandelt.

Doch viele dieser Verheißungen und Vorlagen existieren nur als Marketing-Pitch. Und selbst, wenn sie jemals zur Umsetzung gelangen, werden sie dem Hype, der um sie betrieben wird, selten gerecht. Real existierende Smart Cities werden häufig von Verzögerungen und Verirrungen, von Pannen und Leerstand geplagt. So wurde beispielsweise Songdo in Südkorea von Grund auf als smarte Stadt gebaut, mit einer Unmenge Sensoren, automatisierten Dienstleistungen und unvorstellbar vielen Bildschirmen an so ziemlich jeder Stelle – an jedem Gebäude, jeder Bushaltestelle, jedem Laternenpfahl. Als strahlendes Leuchtturmprojekt sollte Songdo eigentlich allen anderen Städten als Vorbild dienen. Jedoch wurden ständig Budgets und Fristen gesprengt, zudem ist die Stadt heute nur dünn besiedelt. Sie wirkt wie ein Showroom für eine nie eingetretene Zukunft, wie ein Architekturmodell in Lebensgröße.

Die Smart City ist kein in sich schlüssiges Konzept, und schon gar kein real existierendes Gebilde. Stattdessen sollten wir uns den Begriff als einen irreführenden Euphemismus für eine urbane Zukunft vorstellen, die vollständig durch Konzerne kontrolliert wird. Der Ausdruck selbst ist Teil der dafür notwendigen ideologischen Infrastruktur.

Eine nähere Betrachtung des Zusammenschlusses von Technologien und politischen Strategien, die mit dem Konzept der Smart City verbunden sind, lässt eine andere Zielsetzung vermuten. Diese Technologien behandeln die Stadt wie ein Schlachtfeld: Sie beruhen auf Informationssystemen, die ursprünglich für militärische Zwecke oder für polizeiliche Überwachung entwickelt worden sind. Sensoren, Kameras und andere vernetzte Überwachungssysteme sammeln Informationen und speisen diese in andere Systeme ein, die ihrerseits mit geeigneten Maßnahmen reagieren. In Wirklichkeit sind die urbanen Kommandozentralen – oder die ausgeklügelte Analysesoftware zur Erstellung relationaler Datennetzwerke, wie sie beispielsweise von der maßgeblich durch die CIA finanzierte Firma Palantir entwickelt wird – in erster Linie für die Polizei gedacht, nicht für Stadtplaner*innen oder womöglich gar die Öffentlichkeit.

Entgegen der Verlautbarungen ihrer Verfechter*innen werden diese Systeme nicht von der, sondern gegen die allgemeine Öffentlichkeit angewandt. Diese urbane Kriegsmaschine bildet den wahren Kern smarter Stadtentwicklung. Anstelle der smarten Stadt bringt sie die erfasste Stadt hervor.

Mit dem Ausdruck Smart City sollte man nicht das Bild verbinden, das in den Hochglanz-Marketingbroschüren mit ihren hochtrabenden Entwürfen vermittelt werden soll. Besser, man denkt bei dem Begriff gleich an so etwas wie das Domain Awareness System (Feldaufklärungssystem). Das System, ein Joint Venture zwischen der New Yorker Polizeibehörde NYPD und Microsoft, greift nach Auskunft der NYPD auf das weltgrößte Netzwerk aus Kameras, Verfahren zur Nummernschilderkennung und Strahlungsdetektoren zurück. Durch die Anwendung immenser Rechnerleistung auf all diese Datenquellen wird dieses vormals verteilte Netzwerk von Überwachungsinfrastrukturen zu einem einheitlichen System. Polizist*innen mit Smartphones und Tablets verfügen über mobilen Echzeitzugang zu diesen Informationen und können zum Beispiel die Bilder von Überwachungskameras aus der ganzen Stadt aufrufen, eine Reihe unterschiedlicher Datenbanken durchsuchen und automatische Benachrichtigungen erhalten, wenn die Software »verdächtige Aktivitäten« registriert.

Für den Soziologen Josh Scannell, der zur Technopolitik urbaner Kontrollsysteme forscht, ist dieses System ein weiteres Produkt des globalen »Krieges gegen den Terror«. »Das Domain Awareness System«, so Scannell, »wurde im Rahmen eines Antiterrorprogramms aus Mitteln des Heimatschutzministeriums finanziert. Seine Überwachungsmaßnahmen reichen weit über offensichtlich kriminelle Handlungen hinaus und registrieren selbst exotische Daten wie die Auswertungen von Strahlungsdetektoren – die so fein kalibriert sind, dass sie sogar Spuren kürzlich erfolgter chemotherapeutischer Behandlungen erfassen.« (2)

»Informatik der Herrschaft«

Die Stadt wird in zweierlei Hinsicht erfasst: als Datenbestand und als Territorium. Mit einem dichten Gewebe aus Überwachungssystemen, die wie ein Schleppnetz für Daten über der Stadt ausgeworfen werden können und es so erlauben, bestimmte Zielgruppen stets genau im Auge zu behalten, kann die Polizei das Stadtgebiet noch effizienter überwachen. Das Ziel besteht darin, die Stadt so eng mit diesen Systemen zu verflechten, diese zu einem so grundlegenden Teil der urbanen Infrastruktur zu machen, dass sich die beiden nicht mehr entwirren lassen.

Bestehende Ausschlussmechanismen wie Rassismus, Sexismus und Kolonialismus werden neu formuliert und sowohl in materieller als auch in ideologischer Hinsicht reproduziert.

Die Stadt wird auch in ideologischer Hinsicht erfasst. Im Konzept der erfassten Stadt ist die Stadtbevölkerung der Gegner: Wenn der Feind überall lauern kann, muss auch das Schlachtfeld überall sein; entsprechend ist es notwendig, über alle Orte und Menschen jederzeit Aufschluss erlangen zu können.

Die Behörden können das Stadtgeschehen per Knopfdruck zurückspulen, pausieren, es in Echtzeit verfolgen oder anhand von Prognosemodellen sogar vorspulen, was polizeiliche oder planerische Maßnahmen noch vor dem Eintreten eines antizipierten Ereignisses ermöglicht. Durch hochauflösende Kameras und hochempfindliche Sensoren, so schreibt Christopher Mims im Wall Street Journal, »könnten diese Systeme dreidimensionale Karten erstellen, innerhalb derer sich Datenanalyst*innen frei bewegen und Zielpersonen so verfolgen könnten, als würde über ihnen permanent eine Drohne schweben«. Alles wird durch Echtzeit-Tracking lesbar gemacht; datengestützte Analyse bringt überall Profile und Muster zum Vorschein. Dank smarter Systeme muss die Polizei (mit ihren privaten Kooperationspartnern) sich nun nicht mehr mühsam ihren Weg durch eine chaotische und vielgestaltige Stadt bahnen. Smarte Systeme versprechen die Durchsetzung einer maschinenartigen Ordnung, ganz so, als ob sich die Funktionsweise der Stadt ebenso vorprogrammieren ließe wie die zu ihrer Analyse eingesetzten Computer.

Solche Versuche, ganze Städte einzunehmen, sind Beispiele für das, was Donna Haraway bereits 1989 als eine im Entstehen begriffene »Informatik der Herrschaft« beschrieben hat. (3) Dabei werden bestehende Ausschlussmechanismen wie Rassismus, Sexismus und Kolonialismus neu formuliert und sowohl in materieller als auch in ideologischer Hinsicht reproduziert. Gleichwohl ist das Domain Awareness System mit seinen zentralisierten Methoden der Machtausübung noch immer alten, zentralistischen Vorstellungen darüber verhaftet, wie sich eine Stadt kontrollieren lässt. Es geht von der Einrichtung eines kybernetischen Gehirns und eines gottgleichen Auges aus.

Für diesen nächsten Entwicklungsschritt von Herrschaft – einer Herrschaft, die eher diffus ausgeübt und daher als weniger repressiv wahrgenommen wird – müssen wir den Blick auf die jüngsten Vorhaben des eifrigsten Architekten der erfassten Stadt richten: auf Amazon. »Ring«, die vom Konzern entwickelte vernetzte Türklingel mit Videofunktion, und die zugehörige App »Neighbors« sind ein Beispiel. Ring verspricht Sicherheit und Schutz in einem praktischen Paket und soll vor allem solche Kund*innen ansprechen, die als Angehörige bereits privilegierter Gruppen die Polizei auf ihrer Seite sehen und daher glauben, nichts zu verbergen zu haben. Doch was Ring wirklich bietet, sind erweiterte Zugriffsrechte für die Polizei.

Indem sie diese Geräte als Konsumartikel vertreiben (oder verschenken), können Amazon und die Polizei die öffentlichen Aufsichtsinstanzen umgehen

Quer durch die Vereinigten Staaten hat Ring im Rahmen von Partnerschaften mit lokalen Polizeibehörden ermäßigte oder kostenlose Geräte an Bürger*innen verteilt. Während Amazon von den anfallenden Gebühren für die Speicherung von Daten sowie von der Monopolstellung in einem weiteren Markt profitiert, kann die Polizei dank Ring über ein verteiltes Netzwerk aus Kameras verfügen, das sie mithilfe des in der Gerätesoftware sowie in der Neighbors-App integrierten Sonderzugangs für Strafverfolgungsbehörden jederzeit anzapfen kann. Indem sie diese Geräte als Konsumartikel vertreiben (oder verschenken), können Amazon und die Polizei die öffentlichen Aufsichtsinstanzen umgehen, die normalerweise bei der massenhaften Installation von Kameras greifen würden. Schließlich wird jede Ring-Klingel freiwillig durch einzelne Haushalte installiert.

Erfasste Städte sind nicht unausweichlich

Wenn die Verfechter*innen der erfassten Stadt ihre Pläne verwirklichen können, wird es kaum ein Entrinnen geben. Doch wird es immer Menschen geben, die sich durch die Gitterstäbe dieses Käfigs hindurchzwängen und entwischen. Menschen werden es immer schaffen, sich Störungen und Fehler zunutze zu machen. Diejenigen, die erfinderisch sind, werden Wege finden, selbst das totalitärste System zu umgehen, zu täuschen oder zu stürzen. Wir sollten diese Instanzen des Widerstands unterstützen, allerdings zugleich auch anerkennen, dass sie allein nicht ausreichen werden. Wie Os Keyes am Beispiel von Infrastrukturen der Gesichtserkennung überzeugend darlegt, kann selbst eine Errungenschaft wie das Verbot solcher Software nur ein erster Schritt sein: »Wir sollten unsere Erfolge durchaus feiern – aber wir sollten auch verstehen, dass zu einem echten Erfolg mehr nötig ist, als eine Technologie zu beerdigen. Ein Erfolg wäre, ihre Knochen zu zermahlen um sicherzustellen, dass sie niemals wieder zum Leben erweckt werden kann.« (4)

Für eine echte Abkehr vom Modell der erfassten Stadt braucht es beharrlichen Widerstand, bis auch die letzte der zahlreichen technologischen wie ideologischen Infrastrukturebenen niedergerissen worden ist.

Wenn smarte Stadtentwicklung als soziotechnische Vision uns etwas lehren kann, dann ist es dies: Solche Modelle der Ausübung von Herrschaft entstehen nicht einfach so. Der Markt für diese Ideen wird erst von ihren Anbieter*innen und Verfechter*innen geschaffen. Ihre Attraktivität muss künstlich hergestellt und immer neu beschworen werden. Sie stützen sich einzig auf den Anschein einer vermeintlichen Unausweichlichkeit. Es ist Zeit festzustellen: Die Smart City als (Hochglanz-)Konzernfantasie ist tot – sofern sie überhaupt je lebendig war. Wir sollten dafür sorgen, dass die erfasste Stadt das gleiche Schicksal ereilt.

Jathan Sadowski

Jathan Sadowski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Emerging Technologies Research Lab der Fakultät für Informationstechnik a der Monash University.

Der Text ist eine gekürzte Fassung des Artikels »The Captured City«, das im November 2019 im englischsprachigen Magazin »Real Life« erschien.

Übersetzung: Philipp Sack

Anmerkungen:
1) Beim Erscheinen der englischen Fassung des Textes war Rometty noch CEO des Unternehmens, seit Ende Januar 2020 bekleidet sie die neue Position, d. Übers.
2) R. Joshua Scannell: Both a Cyborg and a Goddess, in: Katherine Behar (Hg.): Object Oriented Feminism. Minneapolis, University of Minnesota Press, 2016.
3) Donna Haraway: A Cyborg Manifesto, 1985/1989.
4) Os Keyes: The Bones We Leave Behind, Real Life Mag, 7.10.2019.