analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 700 | Lesen

Wie Verschwörungen gedeihen

In dem Buch »Die Freiheit, die sie meinen« beschreibt Sebastian Schuller die Formierung eines autoritären Neoliberalismus im Zuge der Corona-Pandemie

Von Stefan Dietl

Ein Plakat mit der Aufschrift: "Verschwörungstheoretiker aller Länder vereinigt euch"
Nicht nur vorführen oder die Gefahren aufzeigen, sondern die gesellschaftlichen Hintergründe darlegen. Foto: Unsplash/Markus Spiske

Kaum ein Thema treibt die Öffentlichkeit derzeit so um wie die zunehmende Anziehungskraft verschwörungsideologischer Vorstellungen. Unzählige Fernsehdokumentationen, Radio-Features und Feuilletonartikel widmen sich den verschiedensten Verschwörungsmythen. Mal werden zur Belustigung des Publikums Verschwörungsgläubige durch ihren Alltag begleitet, mal scheinbar investigativ gängige Verschwörungsvorstellungen widerlegt und vor der Gefahr gewarnt, die von diesen ausgehen. Nicht zuletzt angesichts der verschwörungsideologischen Massenmobilisierung im Zuge der Corona-Pandemie haben sich auch Politik und Wissenschaft des Themas angenommen.

Gemeinsam haben diese Auseinandersetzungen meist, dass von den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Verschwörungsideologien wachsen und gedeihen, abstrahiert wird. Präsentiert wird der Verschwörungsglaube als individuelle Verwirrung des Einzelnen, als etwas, das mit dem Rest der Gesellschaft nichts zu tun hat und gerade deswegen erklärungsbedürftig ist.

Im erklärten Gegensatz dazu behandelt Sebastian Schuller in seinem kürzlich erschienenen Essay »Die Freiheit, die sie meinen« Verschwörungsvorstellungen als gesellschaftlich erzeugtes Problem. Durch seine detaillierte Analyse der Corona-Verschwörungserzählungen gelingt ihm dabei eine beeindruckend tiefgreifende Zustandsbeschreibung des aktuellen neoliberalen Kapitalismus.

Ausgangspunkt seiner Analyse ist ein Denken, das Schuller als »deutsche Corona-Ideologie« bezeichnet und das von einem radikal-individualistischen Freiheitsbegriff und einem sozialdarwinistischen Menschen- und Gesellschaftsbild geprägt ist. Seinen Ausdruck findet dieses Denken in der Ablehnung sämtlicher kollektiver Maßnahmen zum Schutz vor dem Virus. Covid-19 und dessen Folgen werden individualisiert und ganz in der Tradition der neoliberalen Ideologiegeschichte wird jeder Eingriff in das Marktgeschehen, jede Einschränkung der Wirtschaft oder des Konsums als tyrannischer Angriff auf die individuelle Freiheit gedeutet. 

Corona-Leugnende fungieren als Avantgarde der Bewahrung des Status quo. 

Verschwörungsideologische Corona-Leugner*innen fungieren dabei als Avantgarde der Bewahrung des Status quo – des Kapitalismus neoliberaler Prägung. Mit einem Programm aus Marktradikalismus und sozialdarwinistischer Abwertung von menschlichem Leben machen sie als konformistische Rebellen mobil zur Verteidigung eines neoliberalen Freiheitsbegriffs. Schuller dekonstruiert damit auch den Mythos, Verschwörungsideologien ließen sich fein säuberlich von der Mitte der Gesellschaft abgrenzen, und verweist immer wieder auf die zahlreichen Übereinstimmungen von Querdenken und Co. mit liberalen Vertreter*innen der deutschen Corona-Ideologie in Wissenschaft, Presse und Politik.

Doch was macht diese Verteidigung des Status quo überhaupt notwendig? Laut Schuller offenbarte die Pandemie die inneren Widersprüche und Unzulänglichkeiten des Gegenwartskapitalismus und verschärfte so die bereits vorhandene ideologische Krise des Neoliberalismus. Die kaputtgesparte soziale Infrastruktur stand vor dem Kollaps, und um die herrschende Ordnung überhaupt aufrechterhalten zu können, sahen sich die Regierenden gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen, die zunächst der neoliberalen Doktrin widersprachen, und griffen regulierend ins Wirtschafts- und Sozialleben ein.

Die deutsche Corona-Ideologie entstand als Reaktion auf diese Herausforderung des Neoliberalismus. Sie ist für Schuller der Versuch, die Krise mittels autoritärer Mittel und Ideologien – wie antisemitischen Verschwörungsmythen – zu überwinden. »Es materialisieren sich hier die ideologischen Tendenzen eines neoliberalen Krisenkapitalismus, eines Systems, das an seine Grenzen gekommen ist und sich nur noch durch den antisemitischen Mob und autoritäre, sozialdarwinistische Politiken an der Macht halten kann«, urteilt Schuller.

Eine Entwicklung, die mit der Corona-Pandemie wohl nicht an ihr Ende gekommen ist. Im Gegenteil geht Schuller zu Recht davon aus, dass sich der autoritäre Neoliberalismus und der damit verbundene blutige Sozialdarwinismus angesichts kommender globaler Krisen wie der Klimakatastrophe weiter radikalisiert. Sein trotz der hohen theoretischen Dichte packend geschriebener Essay ist somit nicht nur Zustandsbeschreibung, sondern auch Ausblick in die mögliche Zukunft eines autoritär gewendeten Neoliberalismus.

Stefan Dietl

arbeitet als freier Journalist zu sozial- und gewerkschaftspolitischen Themen. Im Unrast Verlag erschien von ihm zuletzt »Die modernen Wanderarbeiter*innen. Arbeitsmigrant*innen im Kampf um ihre Rechte«.

Sebastian Schuller: Die Freiheit, die sie meinen. Verschwörungsideologien und die Entstehung des autoritären Neoliberalismus. Edition Assemblage, Münster 2023. 224 Seiten, 16,80 EUR.