Schatten des eigenen Stammbaums
Sie ist Nachkommin eines kolonialen Entdeckers und Repräsentation seiner Studienobjekte zugleich – Gabriela Wiener geht in »Unentdeckt« auf Forschungsreise
Von Isabella Caldart

Ihr ungewöhnlicher Nachname erinnert sie täglich an den Vorfahren: »Viner«, »Weiner«, »Winter« – all diese Versionen kennt Gabriela Wiener. Für die spanischsprachige Zunge ist es nicht leicht, ihren Namen auszusprechen. In »Unentdeckt«, ihrem ersten auf Deutsch übersetzten Roman, begibt sich die peruanische Autorin auf Spurensuche in ihre Vergangenheit. Der Nachname wurde ihr von Charles Wiener vererbt, einem 1851 als Karl geborenen österreichischen Juden, der nach Paris auswanderte und sich mit dem Namen Charles neu erfand. Ebenda spaziert Gabriela Wiener rund 150 Jahre später durch das Musée du quai Branly, in dem geraubte Objekte nichtwestlicher Kunst ausgestellt werden, darunter mehrere Keramikfiguren aus Peru, mitgenommen ausgerechnet von Charles Wiener, dem Forschungsreisenden. Oder, um es mit den Worten seiner Ururenkelin zu konkretisieren, dem Plünderer. »Plündern ist eine Form der Gewalt«, wie sie weiß, schließlich werden durch dieses koloniale Verbrechen Kulturen aus dem Kontext gerissen und zerstört. Take notes, Humboldt-Forum.
Mehrere Jahre lang turnte Charles Wiener durch Peru, entdeckte beinahe Machu Picchu – vierzig Jahre vor der offiziellen »Entdeckung« 1911 durch den Archäologen Hiram Bingham –, schickte indigene Kunst nach Europa und hinterließ: einen Nachkommen. Die Details bleiben im Dunkeln: »Ich frage mich, ob es einvernehmlich war oder nicht, ob es Amors Pfeil war, ein Abenteuer, eine schnöde Formalität.« Beim Gang durch das Pariser Museum interessiert sich Wiener vor allem für die ausgestellten Huacos retratos (ihr Buch heißt im Original auch »Huaco retrato«), prähispanische Keramiken, die indigene Gesichter porträtieren, »so realistisch, dass es für viele von uns ist, als würden wir in einen vor Jahrhunderten zerbrochenen Spiegel schauen«. Gabriela, »von allen Wieners die am meisten Indigene« der Familie, ist beides: Nachfahrin des Wissenschaftlers und zugleich Abbild seiner Studienobjekte.
Ausgehend von diesem Paradox erforscht die Autorin den internalisierten Rassismus ihrer Familienmitglieder. Ihr Vater war der Einzige, der »keine weiße Mestizin heiratete. Seine beiden Brüder taten es. Auch der Bruder meiner Mutter heiratete eine weiße Mestizin. Meine Mutter heiratete einen weißen Mestizen. Aber mein Vater heiratete eine Chola.« Chola, das ist in Lateinamerika ein abwertender Begriff für die Nachkommen indigener Menschen, den Gabriela Wiener für sich reclaimt. Auch über ihr eigenes Begehren macht sie sich Gedanken. Sie lebt in einer polyamorösen Beziehung mit einem peruanischen Autor und einer weißen, spanischen Buchhändlerin. Im Verlaufe ihrer Reise besucht sie einen Kurs, um ihr Liebesleben zu dekolonisieren. Wiener wird nämlich klar, dass sie »bei Frauen immer das angemacht (hat), was ich mir für mich selbst gewünscht hätte – schlank sein, weiß sein«.
Kann ein Familientrauma wirklich so viele Generationen überdauern?
»Unentdeckt« ist trotz seiner Kürze – das Buch umfasst 190 großzügig gesetzte Seiten – eine tiefgehende Erkundung komplexer Themen, die immer wieder auf Charles Wiener zurückgehen. Unwillkürlich fragt man sich bei der Lektüre: Kann ein Familientrauma wirklich so viele Generationen überdauern? Gabriela Wiener zumindest vermutet, dass das »Ur-Verlassenheitstrauma«, also die Tatsache, dass ihr Ururgroßvater María Rodríguez schwanger zurückließ, ohne jemals wieder nach Peru zurückzukehren, noch im »Schatten unseres Stammbaums« zu finden ist. Viel interessanter als die Frage um eine mögliche Vererbung ist aber die der Sozialisation. Wiener, die seit gut 20 Jahren in Madrid lebt, wird aufgrund ihrer Herkunft und ihres »Chola«-Aussehens immer wieder mit der Annahme konfrontiert, sie arbeite als Putzkraft. »Warum bin ich beleidigt?«, fragt sie sich selbst. »Weil auch ich finde, dass eine Hausangestellte weniger wert ist als eine Journalistin, die für El País schreibt? Weil es mich an meine Rassifizierung erinnert, meine race, die immer die Hälfte meines Selbst war und sein wird?«
Diese Reflexionen gehören zu den besten Momenten in »Unentdeckt«. Parallel dazu gibt es einige Details, die einen regelrecht zusammenzucken lassen. Etwa wenn die Autorin, eigentlich eine feministische, politische Person, die obendrein in einer nichtheteronormativen Beziehungskonstellation lebt, ihre nichtbinäre Affäre konsequent misgendert. Oder wenn in der Übersetzung (was das spanische Original in dieser Form nicht hergibt) plötzlich das rassistische Kinderlied »Zehn kleine N-« ausgeschrieben auftaucht, was die Intention Wieners, Rassismus zu reflektieren, invertiert. In vielen Ansätzen ist »Unentdeckt« ein interessanter autofiktionaler Roman, der sich mitunter allerdings etwas uneben liest. Vor allem, wenn Wiener arg ausschweifend über ihre Affären außerhalb ihrer poly Beziehung berichtet, ganz offensichtlich, um das eigene schlechte Gewissen zu bekämpfen, was vom eigentlichen Sachverhalt, den Gedanken um Dekolonisierung und dem Paradox von Körpern in dieser Welt, ziemlich weit wegführt. »Unentdeckt« zeigt: Es ist nicht leicht, die Vergangenheit abzuschütteln. Und noch weniger die gegenwärtigen Machtstrukturen, wenn man eine queere Person of Color in einer weißen, patriarchalen Umgebung ist.
Gabriela Wiener: Unentdeckt. Aus dem peruanischen Spanisch von Friederike von Criegern. Kanon Verlag Berlin, 2025. 192 Seiten, 22 EUR.