analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 700 | Kultur

Aus Sorge um ein bedrohtes Land

Saul Friedländers Buch »Blick in den Abgrund« ist zugleich Analyse und Polemik

Von Jens Renner

Eine Menschenmasche auf zwei Brücken über einer Autobahn. Dahinter der nächtliche Himmel und Hochhäuser.
Die Proteste gegen die Justizreform der rechten Regierung wurden zur Massenbewegung in Israel: Blockade der Autobahn in Tel Aviv. Foto: Oren Rozen / Wikimedia, CC BY-SA 4.0 DEED

Saul Friedländer beginnt sein »israelisches Tagebuch« am 17. Januar 2023 und beendet es ein halbes Jahr später, am 26. Juli, »mit einem Hauch von Optimismus«. Den Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober und den dadurch ausgelösten Krieg in Gaza konnte auch er nicht voraussehen. Wo er von drohender Kriegsgefahr spricht, geht es meist um Iran. Generell richtet sich sein sehr verhaltener Optimismus nicht auf die internationale Lage, sondern auf die israelische Innenpolitik. Nicht zu Unrecht – denn am Neujahrstag verwarf das Oberste Gericht in Jerusalem mit knapper Mehrheit ein Kernelement der autoritären Justizreform: die von der rechten Regierungskoalition beschlossene Abschaffung der »Unangemessenheitsklausel«. Nun behält das Oberste Gericht – vorerst – das Recht, Regierungsentscheidungen auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen und »unangemessene« Gesetze aufzuheben.

Dass es so kommen würde, war vor einem Jahr keineswegs sicher. In seinen Tagebuchnotizen schwankt Friedländer denn auch zwischen Hoffnung und Empörung. Die von Benjamin Netanjahu gebildete Regierung nennt er ein Monster, das beteiligte Personal beschimpft er systematisch. Itamar Ben-Gvir, Minister für nationale Sicherheit von der Partei Jüdische Stärke, ist für ihn ein »böser Clown«, Finanzminister Bezalel Smotrich (Partei Religiöser Zionismus) ein Rassist und Araberhasser, Premier Netanjahu ein notorischer Lügner. Nur um einer Verurteilung wegen Untreue, Betrug und Korruption zu entgehen, habe dieser sich mit Ultraorthodoxen und extremen Rechten zu der schlimmsten Koalition zusammengetan, die jemals das Land regierte.

Mit großer Sympathie, teilweise Begeisterung begleitet Friedländer die über Monate aktive demokratische Massenbewegung gegen die Regierung und ihre geplant Justizreform. Gleichzeitig kritisiert er Halbheiten der parlamentarischen Opposition und zögerliche Interventionen von Staatspräsident Jitzchak Herzog.

Heute könne der extreme Nationalismus der Rechten und der Messianismus der Ultraorthodoxen zum Bürgerkrieg führen.

Das Buch ist aber weit mehr als eine Chronik der Proteste gegen eine autoritäre Regierung. Mehrfach kommt Friedländer, geboren 1932 in Prag, auf seine eigene Biografie zu sprechen. Während seine Eltern – »typische Vertreter des assimilierten jüdischen Bürgertums Mitteleuropas« – in Auschwitz ermordet wurden, überlebte er in einem katholischen Internat in Frankreich. Im Juni 1948 emigrierte er nach Israel, um den gerade gegründeten jüdischen Staat mit der Waffe zu verteidigen. Daraus wurde nichts, weil er noch minderjährig war. Erst später diente er in der Armee und arbeitete für das israelische Konsulat in Paris. Ab den 1970er Jahren wurde er zu einem der weltweit führenden Shoah-Forscher*innen. Sein wichtigstes Werk ist »Das Dritte Reich und die Juden« – eine zweibändige, bis heute unübertroffene Gesamtdarstellung.

Zwischen Alarmismus und berechtigter Sorge

Seit vielen Jahren lebt Saul Friedländer in den USA, die tiefe Bindung zu Israel aber ist geblieben. Seine Abkehr vom Zionismus begann nach dem Junikrieg 1967. Danach seien die besetzten Gebiete zu einem »Krebsgeschwür in der israelischen Politik« geworden, schreibt er. So sei die »Entscheidung, die Besetzung des Westjordanlandes zu verlängern und die Siedlungen zu errichten, im Grunde der Akt, der zum Ende der Demokratie führte.« Friedländer sieht ein grundlegendes Problem, wenn nicht einen unauflösbaren Widerspruch: »Israel will zugleich jüdisch und demokratisch sein«, diskriminiere aber die arabische Minderheit. Heute könne der extreme Nationalismus der Rechten und der Messianismus der Ultraorthodoxen zum Bürgerkrieg führen. Die »unheilige Allianz« von Siedler*innenbewegung und Ultraorthodoxen wolle aus Israel eine »autoritäre Apartheid-Theokratie« machen, »so etwas wie eine Mischung aus dem früheren Südafrika und dem heutigen Iran«. Ist das bloßer Alarmismus oder berechtigte Sorge?

Mindestens ebenso bedrohlich wie die politischen und religiösen Spaltungen wirken aus Friedländers Sicht die sozialen Gegensätze, auch innerhalb der jüdischen Mehrheitsgesellschaft. Die Nachkommen der aus Mittel- und Osteuropa eingewanderten Aschkenasim werden insbesondere von vielen aus dem Nahen und Mittleren Osten stammenden Mizrachim im unteren Segment der Klassengesellschaft als abgehobene Elite wahrgenommen. Mehrfach äußert Friedländer die Befürchtung, Israels Feinde könnten sich angesichts der vielfachen innerisraelischen Konflikte zum Angriff auf das vermeintlich geschwächte Land ermuntert fühlen. Die Hamas allerdings zählt er nicht zu den größten Bedrohungen. Wörtlich schreibt er: »Interessant ist übrigens, dass die Hamas sich nicht in die Auseinandersetzung (die Proteste gegen die Netanjahu-Regierung; Anm. J.R.) einmischt. Sie will die Zivilbevölkerung, für die sie verantwortlich ist, schonen, während der Dschihad ausschließlich auf den militärischen Kampf gegen Israel fixiert ist.« Das hat sich am 7. Oktober 2023 als dramatische Fehleinschätzung erwiesen.

»Frieden bedeutet, Risiken einzugehen«

Wenn Friedländer hier verharmlost und an anderer Stelle zu sprachlichen Superlativen greift, dann schmälert das nicht den Wert seines Tagebuchs. Zumal er durchaus in der Lage ist, sich selbst zu korrigieren. So nimmt er eine allzu enge Antisemitismusdefinition später zumindest teilweise wieder zurück. Anregend sind insbesondere seine Überlegungen, wie nach Jahrzehnten der Gewalt doch noch eine Friedenslösung zustande kommen kann. »Frieden bedeutet, Risiken einzugehen, wahrscheinlich mit Hilfe von außen: ein entmilitarisierter palästinensischer Staat, wenn nötig für Jahre mit einer gewissen amerikanischen Präsenz auf seinem Territorium, und andere ähnliche Präventivmaßnahmen.« Die Verwirklichung dieser Vision erscheint derzeit ziemlich unrealistisch; das gilt allerdings auch für andere Friedenspläne auf Grundlage einer Zweistaatenlösung.

Friedländer bezeichnet sich selbst als linksliberal, mit Sympathien für die Meretz Partei, die derzeit nicht im Parlament vertreten ist. Dass er als Wissenschaftler von Weltgeltung die politische Polemik nicht scheut, ist zu begrüßen. Zornige alte Männer können lästig sein, besonders wenn sie ihre Kritik mit Besserwisserei (»Wir früher!«) verbinden. Davon kann bei Friedländer keine Rede sein. Deutschsprachige Leser*innen sind gut beraten, seine Analysen und Kommentare zur israelischen Politik nicht unkritisch zu übernehmen, sondern als zugespitzte Debattenbeiträge eines zutiefst besorgten Menschen ernst zu nehmen.

Jens Renner

war bis 2020 ak-Redakteur.

Saul Friedländer: Blick in den Abgrund. Ein israelisches Tagebuch. C.H. Beck, München 2023. 237 Seiten, 24 EUR.