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Wer ist Mikey?

In »Red Rocket« erzählt Sean Baker von einem Mann, der Solidarität zurückweist, um sich aus den Verhältnissen zu befreien – und so zum Täter wird

Von Özgün Kaya

Simon Rex als Mikey (rechts) und Suzanna Son als Strawberry (links). Foto: Youtube Screenshot

Als Sean Baker seinem späteren Hauptdarsteller Simon Rex die Rolle des Mikey in »Red Rocket« anbot, soll er ihn gefragt haben, ob er ihm vertraut und Rex bejahte. In einer der ersten Szenen von »Red Rocket« wird Mikey gefragt, wer er sei. Eine Frage, die ihm im Laufe des Films öfter gestellt werden wird. Mikey ist ein abgehalfterter, ehemaliger Pornodarsteller, der nach dem Ende seiner Karriere in Los Angeles in die texanische Heimat zurückkehrt. Er kommt aus einer Kleinstadt, deren Horizont von Industriewerken und ihrem dichten Qualm geprägt ist. Er ist ein miserabler Ehemann und verlogener Freund. Er manipuliert, betrügt und missbraucht sein nahes Umfeld.

Gleichzeitig hält Baker Szenen fest, die vom Betrug der Institutionen an Leuten wie Mikey erzählen: Etwa von einem Sozialamt, das sich nicht zuständig fühlt für den Arbeitslosen. Mikey ist aber ambitioniert, verträumt oder schlicht dem Drang des Erfolges verfallen. Er ist Täter und Opfer. »Wer bist du?« fragen seine Freunde, Familie und Bekannte ihn. Mikey ist all das, aber was bedeutet das?

Gegen die Gemeinschaft

Regisseur und Drehbuchautor Sean Baker zeigt einen knappen Monat des Lebens eines Menschen, wie es ihn in unserer Wirklichkeit wohl viele gibt. Er wählte einen Protagonisten, bei dem es für das Publikum im Kino beinahe unmöglich scheint, Sympathie zu entwickeln; einen abstoßenden Charakter. Einzig die dokumentarische Kameraperspektive ermöglicht hier, so etwas wie ein Gefühl von Nähe aufzubauen. Weil sie Distanz hat, aber gleichzeitig vermeintlich das wahre Leben aufzeichnet. In vergleichbaren Filmen inszenierte Baker seine Protagonist*innen noch eindeutig als Opfer einer ungerechten Welt. Auch in »Red Rocket« lässt sich diese ungerechte Welt erkennen, aber kein scheuer Protagonist.

Mikey ist ein trauriges Beispiel des aufgefressenen und sich selbst zerfressenden Teils der Gesellschaft.

Fragen wir also mit dem Film: Wer ist Mikey? Was macht Mikey besonders? Um ihn herum sind Menschen, die unter denselben Widrigkeiten überleben müssen. Sie handeln aber nicht gegen ihre Gemeinschaft an Freund*innen und Nachbar*innen – sie leben in Solidarität. Mit allen Mitteln sorgen sie füreinander. Da das Gesetz und die Institutionen gegen sie arbeiten, scheuen sie auch nicht davor zurück, außerhalb des Gesetzes ihr Überleben zu erarbeiten. Prostitution und Drogenhandel sind da die Möglichkeiten, die übrig bleiben. Mikey möchte jedoch aus dieser Tretmühle des Überlebens heraus und leben, das heißt seinen Wünschen und Träumen nachkommen. Ohne Rücksicht auf Verluste. In seinen Augen hindert ihn die Gemeinschaft nur und ist höchstens punktuell als Mittel zum Zweck zu gebrauchen. So kam es, dass er nach seiner gescheiterten Karriere wieder in die Heimat zurückkehrte. Gleichzeitig zeigt das aber auch, dass, auch wenn er es nicht will und nicht einsehen kann, er ohne die Gemeinschaft verloren ist.

Mit dem Kino zur Quelle des Übels

Mikey ist ein trauriges Beispiel des aufgefressenen und sich selbst zerfressenden Teils der Gesellschaft unserer ungerechten Wirklichkeit. Aufgefressen von den feindlichen Gesetzen und Institutionen und zerfressen von der Doktrin der Herrschenden, nach welcher ein jeder ausschließlich an sich selbst zu denken habe. Gerade die Verinnerlichung der omnipräsenten Predigt der Eigenverantwortung des angeblichen Individuums führt Mikey zur Loslösung jeglicher Verantwortung seiner im Film geschilderten (Un-)Taten.

Mikey steht Parade dafür, dass es kein Leben ohne Gesellschaftlichkeit gibt, aber besonders die existierende Gesellschaft keine freien Individuen hervorbringt. Sie bringt Täter*innen und Opfer hervor. Die Gewalt, die er erfährt, gibt er an sein Umfeld weiter. Mikey ist das Produkt dessen, was Apologet*innen des Kapitalismus wie Friedrich August von Hayek anstießen, Margaret Thatcher (»There is no such thing as society«) in ihrem berühmten Ausspruch proklamierte und herrschende Politiker*innen bis heute praktizieren. Er ist ein Opfer des Kapitalismus und die vom Kapitalismus produzierte Ideologie macht ihn wiederum zum Täter. Dies ist, was erschreckt, entsetzt und schwer zu verarbeiten ist. Ausgehend von der letzten Szene im Film, am meisten für Mikey selbst: Sie zeugt final von seiner illusionären Weltsicht und seiner Jagd nach dem vorgegebenen Ideal der Herrschenden.

Es wäre ein Leichtes gewesen, Mikey so wie bisher von Baker bekannt – ohne Bakers bisherige Filmografie schlechtreden zu wollen – als einfaches Opfer einer grausamen Welt zu zeigen. Aber es ist diesmal eben eine außergewöhnliche Leistung, einen Charakter wie Mikey zu schreiben und zu inszenieren. Weder ist »Red Rocket« ein exklusiver Film über die Pornoindustrie noch wird ausschließlich das moderne Amerika behandelt. »Red Rocket« berichtet vielmehr von unserer Wirklichkeit. Ein Film, der, typisch für Baker, verarbeitet, was um uns herum passiert und der wohl beweist, dass gerade das Medium des Films und die Erfahrung des Kinos dazu in der Lage sind, das Abgestoßene wieder zurückzuführen, dem Hässlichen zu begegnen, um letztlich der Quelle dieses Übels die Stirn zu bieten.

Özgün Kaya

ist freier Autor, Filmkritiker und gewerkschaftlich aktiv.