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|ak 676 | Geschichte

Auslagerung statt Aufarbeitung

Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen sorgte nicht für eine humanere Asylpolitik, aber es regt sich Widerstand

Von Cindy Hader und Pro Bleiberecht MV und iL Rostock

Bild des Sonnenblumenhauses, einem Plattenbau mit Balkonen. An der Seite prangt ein Meterhohes Bild von zwei Sonnenblumen. Der Himmel ist Blau.
Das Sonnenblumenhaus ist zum Symbol des Rassismus nach dem Mauerfall geworden. Foto: Foto: Alf Altendorf/Flickr, CC BY-SA 2.0

Nach jahrzehntelangem Schweigen hat die Stadt Rostock 2017 Denkmäler zur Erinnerung an das Pogrom im August 1992 errichten lassen. Tausende Menschen versammelten sich damals vor dem »Sonnenblumenhaus« in Lichtenhagen und griffen tagelang das dortige Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter*innen und die Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete an. Daran wird nun an sechs Standorten erinnert, aber auch auf die Mitverantwortlichkeit von Polizei, Staat und Medien verwiesen. Am staatlichen Umgang mit Geflüchteten haben die Ereignisse im Sommer 1992 wenig geändert. Dies zeigt sich in Nostorf-Horst, einer Gemeinde im ehemaligen Grenzgebiet der DDR. Im Wald versteckt befindet sich hier seit fast 30 Jahren Mecklenburg-Vorpommerns Erstaufnahmelager für Geflüchtete.

Als das Pogrom am 22. August 1992 beginnt, ist die für 300 Menschen ausgelegte Zentrale Aufnahmestelle (ZASt) seit Monaten überfüllt; Asylsuchende müssen tagelang im Freien kampieren. Unter den Pöbelnden sind rechte Agitator*innen, Anwohner*innen, gelangweilte Jugendliche und Neonazis. Sie brüllen »Ausländer raus!« und »Sieg Heil!«, schmeißen Fensterscheiben ein und bejubeln sich. Die Polizei greift drei Tage lang nicht ein. Bilder, die bis heute für den blutigen Rassismus der Nachwendejahre stehen. Am 24. August werden die angegriffenen Asylsuchenden mit Bussen aus dem Stadtteil gebracht – danach setzt der Mob das Haus in Brand. Die mehr als 100 zurückgelassenen Vertragsarbeiter*innen überleben nur, weil sie sich selbst organisieren und über das Dach aus dem brennenden Haus retten.

Volksfest-Charakter

Anfang der 1990er Jahre begann der Zerfall der Sowjetunion. Die Umbrüche in den Ostblock-Staaten führten zu Bürgerkriegen, wirtschaftlicher Not und Flucht. Nach Deutschland flohen viele Rom*nja, die in ihren Heimatländern verstärkt antiziganistischer Verfolgung ausgesetzt waren. Von »Willkommenskultur« konnte jedoch nicht die Rede sein: Das Leben in den Sammelunterkünften war geprägt von Isolation, Unsicherheit und der Bedrohung durch rechte Gewalt. Fast täglich wurden Migrant*innen Ziel von rassistischen Angriffen. Befeuert wurden diese von einer in den 1980ern begonnenen Kampagne zur Verschärfung des Asylrechts und dem Erstarken der Neuen Rechten nach der Wiedervereinigung.

Über das Schicksal der in Rostock Angegriffenen ist bis heute kaum etwas bekannt. Vermutlich wurden die meisten Geflüchteten noch 1992 abgeschoben; erleichtert durch ein Rücknahmeabkommen, das Deutschland kurz nach dem Pogrom mit Rumänien vereinbarte. Entschädigungen erhielten die Betroffenen nicht. Stattdessen wurde im Mai 1993 mit dem sogenannten »Asylkompromiss« das Grundgesetz geändert und das Recht auf Asyl eingeschränkt. Die Politik erfüllte damit den Willen der Gewalttäter und leitete eine asylrechtliche Eiszeit ein.

Direkt nach dem Pogrom beschäftigt sich die Öffentlichkeit mit dem desaströsen Polizeieinsatz, politischen Fehleinschätzungen und Erklärungsversuchen für rechte Gewalt in Ostdeutschland. Wo und wie es nach dem Pogrom für die ehemaligen Vertragsarbeiter*innen und Asylsuchenden weitergeht, wird dagegen kaum thematisiert. Selbst der Untersuchungsausschuss des Landes blendet die Perspektiven der Betroffenen vollends aus. Im Zwischenbericht heißt es lapidar: »Mit vier Bussen wurden ca. 200 Bewerber auf Städte und Kreise verteilt.«

Ungehörte migrantische Stimmen

Dabei ist ein Blick auf die anschließende Unterbringung von Geflüchteten äußerst relevant. Er verdeutlicht: Das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen ist nicht der große Bruch in einem ansonsten menschenwürdigen System, sondern reiht sich ein in die rassistischen Kontinuitäten einer inhumanen Politik.

Die anhaltende Diskriminierung zeigt sich im stufenweisen Auslagern von Geflüchteten. Am 23. August 1992, noch während des Pogroms, wird eine ehemalige NVA-Kaserne in Hinrichshagen, einem abgelegenen Stadtteil im Nordosten Rostocks, als Übergangslösung für die ZASt in Betrieb genommen. Bereits zuvor hagelte es Beschwerden von Anwohner*innen, die sich vor »Rowdies und Chaoten« (eine gängige Bezeichnung für rechte Gewalttäter*innen) im Wohngebiet fürchteten und damit der verdrehten Vorstellung nachhingen, Migrant*innen seien selbst verantwortlich für die Übergriffe auf sie; nicht die Rassist*innen und Neonazis, die sie verüben.

Das Lager in Nostorf-Horst wäre auch ohne das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen entstanden, denn der Wille zur Auslagerung Geflüchteter bestand im Innenministerium schon länger.

Am 7. September 1992 ist die für 600 Menschen ausgelegte Einrichtung mit 923 Geflüchteten bereits überbelegt. Zu erreichen ist das Lager im Wald zudem nur über die viel befahrene Landstraße L22, die weder über Fuß- noch Radwege verfügt. Im Februar 1993 werden hier zwei Rumän*innen von Autos erfasst und sterben.

An den staatlichen Vorgaben ändert das nichts: Politiker*innen wollen Asylsuchende aus den urbanen Zentren fernhalten. Die Suche nach einer geeigneten Liegenschaft begann bereits zum Jahreswechsel 1991/92, stieß jedoch allerorts auf vehemente Ablehnung. Nach dem Pogrom steigt jedoch der politische Druck: Im Oktober 1992 beschließt das Kabinett die Einrichtung der ZASt in Nostorf-Horst. Aus Sicht des Landes, das auch um sein Image bangt, bietet die ehemalige NVA-Kaserne viele Vorteile: Sie gehört dem Land, kann sofort umgebaut werden und befindet sich in einer siedlungsarmen Region. Hinrichshagen schließt am 1. Dezember 1995.

Das Lager in Nostorf-Horst wäre auch ohne das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen entstanden, denn der Wille zur Auslagerung Geflüchteter bestand im Innenministerium schon länger. Dennoch steht die Einrichtung im Zusammenhang mit den Ausschreitungen, die letztlich wie ein Katalysator wirkten: Auf institutioneller Ebene beschleunigten sie die Planung und setzten finanzielle Mittel frei, um Asylsuchende – ihre Forderungen, Klagen und ihr Leid – an die gesellschaftlichen Ränder und damit in die Passivität zu drängen.

Der Widerstand gegen Nostorf-Horst, der mindestens so alt ist wie das Lager selbst, erzählt jedoch auch andere Geschichten. 2004 und 2005 organisieren Aktivist*innen aus Rostock, Lüneburg, Bremen und Hamburg mit Geflüchteten der 1998 gegründeten »Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und Migrant_innen« zwei »No-Lager-Camps« gegen die Zwangsunterbringung im Nirgendwo. Nostorf-Horst steht im Zentrum der Mobilisierungen: »Mit unseren Protesten vor Horst haben wir symbolisch den Zaun erschüttert«, erinnert sich ein kurdischer Aktivist im Gespräch mit ak. »In der Presse gab es dazu ein großes Echo. Für Mecklenburg-Vorpommern war das ungewohnt und unbequem.«

Auch innerhalb der Zäune protestieren Bewohner*innen gegen Willkür und Entrechtung: 2010 beginnt ein junger Mann aus Afghanistan einen Hungerstreik. Dutzende Bewohner*innen solidarisieren sich mit ihm, die Medien berichten auch über die mecklenburgische Landesgrenze hinaus. Die Forderungen der Protestierenden sind klar: kürzere Unterbringung, bessere Infrastruktur, Schulzugang für ihre Kinder, selbstbestimmte Essenszubereitung – kurzum: längst überfällige Humanisierungen der rassistischen Politik der frühen 1990er Jahre.

Break Isolation

Auch 30 Jahre nach Errichtung des Lagers müssen in Nostorf-Horst hunderte Menschen in zermürbender Isolation leben. Ebenso lange währt der Kampf gegen diese Zustände: Seit 2017 finden vor den Toren des Lagers Proteste in Form monatlicher Mahnwachen statt. Getragen werden sie von antirassistischen Gruppen und Bewohner*innen, die trotz drohender Repressionen lauten und leisen Widerstand leisten. Dieser richtet sich gegen schlechte medizinische Versorgung, fehlende Schulbildung für Kinder und absurde Schikanen des Personals, wie etwa dem demütigenden Verbot, sich Kantinenessen mit auf die Zimmer zu nehmen. »Das hier ist ein Gefängnis. Aber wir sind doch keine Verbrecher!«, artikulieren Bewohner*innen auf einer der Mahnwachen ihre Wut und Enttäuschung.

Die Mahnwachen verstehen sich als Protest gegen die Politik der Unsichtbarmachung geflüchteter Menschen. Die Aktivist*innen nehmen mehrstündige Autofahrten nach Nostorf-Horst auf sich und durchkreuzen damit auch die Strategie der deutschen Asylpolitik. Gleichzeitig dienen die Mahnwachen der Unterstützung und praktischen Solidarität.  

Auch wenn die Frage danach, wie man das Lagersystem am effektivsten bekämpfen kann, oft in der Gruppe diskutiert wird: Zumindest einmal im Monat wird die systematische Isolation Geflüchteter mit den Mahnwachen aufgebrochen. Horst bleibt auch nach 30 Jahren ein Skandal, der benannt und bekämpft werden muss.

In ihren jüngsten Beiträgen erinnert die Journalistin Ayesha Khan daran, dass unser Gedenken an rassistische Gewalttaten immer auch politisch ist. Ein Erinnern an das Pogrom von 1992 muss daher dem anhaltenden Unrecht gegen Asylsuchende Rechnung tragen. Konkret bedeutet das: Entschädigungen für die Betroffenen, die Abkehr von einer hegemonial-weißen Erinnerungskultur, Mitspracherecht für Geflüchtete in Institutionen sowie die politische Einsicht, dass die Schließung von Sammellagern ein unumgänglicher Schritt im Kampf gegen Rassismus ist.

Cindy Hader

forscht an der TU Chemnitz zu Lagern, Solidarität und Widerstand. Sie ist Teil von kritnet.

Pro Bleiberecht MV und iL Rostock

haben zum 29. Jahrestag des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen eine Bustour vom Sonnenblumenhaus zur Mahnwache in Nostorf-Horst organisiert.