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|ak 675 | Geschichte

Eine anarchistische Ausnahmeerscheinung

Vor hundert Jahren wurde in der Ukraine Nestor Machnos Bäuer*innenarmee geschlagen

Von Ewgeniy Kasakow

Nestor Machno (rechts) mit Pavel Dybenko, einem Kommandeur der Roten Armee, 1918

Für Anhänger*innen und Gegner*innen des Anarchismus im postsowjetischen Raum ist sein Name zum Synonym für die praktische Umsetzung der Staatenlosigkeit geworden: Nestor Iwanowitsch Machno. Geboren wurde er 1888 unter dem Nachnamen »Michnenko« in einer armen Bauernfamilie in Guljajpole in der heutigen Ukraine. Seine Schulbildung beschränkte sich auf zwei Klassen, bereits zur Schulzeit musste er Geld verdienen. Mit 16 Jahren kam Nestor als Arbeiter in einem Metallwerk in Kontakt mit einer anarchokommunistischen Gruppe, die Raubüberfälle zur Geldbeschaffung für den politischen Kampf durchführte, sogenannte Expropriationen. 1906, als die erste Russische Revolution das Land erschüttert, wird er Mitglied der Gruppe. Zweimal wird er wegen illegalen Waffenbesitzes und weil er verdächtigt wird, Attentate auf zwei Polizisten zu verüben, festgenommen, beide Male jedoch freigelassen. Im August 1908 wird er wegen des Mordes an einem Militärbeamten verhaftet, ein Feldgericht verurteilt Machno zum Tod durch den Strang.

Doch dank der Bemühungen seiner Mutter, die sein wahres Alter zu verschleiern weiß, wird der vermeintlich Minderjährige begnadigt, die Hinrichtung durch lebenslange Haft ersetzt. In dem berüchtigten Butyrki-Gefängnis in Moskau lernt Machno weitere Anarchisten kennen, darunter seinen späteren Mitstreiter und Biografen Pjotr Arschinow. Wie besessen studiert der bis dahin der russischen Sprache kaum mächtige Ukrainer alle ihm zugänglichen Bücher und lässt sich von seinen Mitgefangenen in politischen Theorien schulen.

Land und Krieg

Die Februarrevolution 1917 bringt allen politischen Gefangenen Freiheit. In drei Wochen erreicht Machno seinen Heimatort, wo er als Kämpfer gegen den Zarismus und als Märtyrer feierlich empfangen wird. Innerhalb kürzester Zeit bekommt der zurückgekehrte Anarchist Posten in allen neuen und alten Institutionen der Macht. Er wird in das aus der Zarenzeit stammende Semstwo gewählt, einer lokalen Selbstverwaltung, führt das örtliche Komitee der Bauerunion, wandelt es in einen Rat (Sowjet) der Bauern- und Soldatendeputierten um und führt zugleich das Komitee der öffentlichen Sicherheit, ein Organ, das für die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig ist. Im September, sobald die Ernte eingefahren ist, lässt der von Machno angeführte Sowjet Grundbesitzer und Kirchen enteignen und übergibt das Land den Bäuer*innen. In den Gutshäusern sollen Kommunen eingerichtet werden, in den Fabriken wird die Arbeiterkontrolle eingeführt.

Den Sturz der Provisorischen Regierung während der Oktoberrevolution in Petrograd begrüßt Machno zwar, doch bleibt er zu den Bolschewiki auf Distanz. Unterstützung bekommt er von der »Schwarzen Garde« der Anarchistin Marusja Nikiforowa (1885–1919), der in benachbarten Großstädten erhebliche Mengen an Waffen in die Hände fallen.

Währenddessen verwandelt sich das ehemaliges Russisches Reich zunehmend in einen »failed state«. In Kiew ergreift ein Organ der ukrainischen Nationalbewegung, die Zentralrada, die Macht und proklamiert die unabhängigen Ukrainische Volksrepublik. In Charkow rufen die Bolschewiki die Ukrainische Sowjetrepublik aus. Die Zentralrada schließt ein Bündnis mit den deutschen und österreichischen Mittelmächten, die im Gegenzug für die staatliche Anerkennung Lebensmittellieferungen verlangen. Im Frühling 1918 fallen die national-ukrainischen und österreichisch-ungarischen Truppen in Gulajpole ein. Die Bodenverteilung soll rückgängig gemacht, die Sowjets abgeschafft werden. Machno flieht nach Sowjetrussland, reist nach Moskau und trifft dort auf führende Bolschewiki und Anarchist*innen, darunter nach eigenen Angaben Lenin und Kropotkin, und nimmt an politischen Beratungen über den Partisanenkampf in der Ukraine teil. Mit falschen Dokumenten kehrt er im Juli desselben Jahres in seine Heimat zurück.

Gegen Weiße und Rote

Die linksnationalistische Zentralrada wurde inzwischen mit deutscher Hilfe von dem konservativen Regime des General Pawel Skoropadski abgelöst, der das Land den Gutbesitzern zurückgibt. Überall kam es zu Bauernaufständen. Machno schafft es, in der Südostukraine die Kräfte von verschiedenen aufständischen Gruppen zu bündeln. Zum Zeitpunkt, als die Mittelmächte den Krieg und die Regierung ihrer Marionette Skoropadski die Macht verliert, umfasst Machnos Bäuer*innenarmee ca. 6.000 Kämpfer*innen, die Grundbesitzer, Polizisten, aber auch Kolonien der deutschen Minderheit regelmäßig angreifen und sogar Kämpfe mit den regulären Truppen nicht scheuen. Als die bolschewistischen Truppen in die Ukraine zurückkehren, finden sie in der Gegend um Gulajpole eine anarchistische Bauernrepublik mit eigenen Truppen vor, die keine fremden Gesetze auf ihrem Territorium akzeptiert.

Die Lage in der Region bleibt jedoch unsicher, denn von Osten rücken die konterrevolutionären Truppen der »Weißen« näher, die für ein »einiges und unteilbares Russland« kämpfen, vom Westen die nationalukrainischen Truppen des neuen Machthabers der Ukrainischen Volksrepublik, Symon Petljura. Im Februar 1919 schließt die inzwischen auf 50.000 Kämpfer*innen angewachsene Armee von Machno ein Bündnis mit den Bolschewiki.

Von den Bäuer*innen verehrt, schaffte Machno es nie, guten Kontakt zu den Arbeiter*innen in den Städten aufzubauen.

Die Beziehungen zwischen den Bündnispartnern bleiben äußerst gespannt – schon Anfang Juni kommt es zum Bruch. Machno verteidigt die Interessen der Bäuer*innen, über ihr Land zu verfügen – eine zentrale Forderung der Revolution. Die Bolschewiki verlangen von den Dörfern die Abgabe der Lebensmittel zur Versorgung der städtischen Bevölkerung und der wachsenden Roten Armee. Immer mehr wird Bauernwiderstand gegen Requirierungen und Mobilisierungen der roten, weißen und nationalen Armeen zum Kampf der Dörfer gegen die Städte. In den ländlichen Gegenden der Ukraine bekommen lokale Warlords mit ihren aus dem Widerstand gegen die deutsch-österreichische Besatzung entstandenen Guerillatruppen, die Roten und Weißen gleichermaßen bekämpfen, zunehmend Macht. An Bauern mit Fronterfahrungen und Waffen mangelt es in der Ukraine nach dem Ersten Weltkrieg nicht. Die ehemalige Kornkammer des Russischen Reiches wird von unzähligen Kriegsparteien umkämpft.

Wie Felix Schnell in seiner 2012 erschienenen Studie »Räume des Schreckens. Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine, 1905-1933« zeigt, war Machnos Armee ebenfalls ein Ausdruck des Phänomens des ukrainischen »warlordism«. Dennoch war Machno in vielerlei Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung. Der schmächtige, gerade mal 1,59 Meter große, an Schwindsucht leidende Mann mit langen Haaren führte nicht nur persönlich die Truppen in den Kampf, sondern organisierte Bildungs- und Kulturarbeit in dem von ihm kontrollierten Gebiet. Er war bereit, einige Waggons mit Lebensmitteln in das hungernde Moskau zu schicken. In einer Zeit, wo alle kämpfenden Armeen unzählige Pogrome veranstalten, gehen nur Machno und die Roten rabiat gegen Antisemitismus in den eigenen Reihen vor – und scheuen dabei nicht die Anwendung der Todesstrafe. Machno schafft es, in seine Armee fast alle Nationalitäten der Region einzubeziehen; es gibt eigene griechische und jüdische Einheiten. Bei Machno finden Anarchist*innen und linke Sozialrevolutionär*innen aus Sowjetrussland Zuflucht. Für die Agitationsarbeit ist die Ende 1918 geschaffene Konföderation der anarchistischen Organisationen der Ukraine »Nabat« (Sturmglocke) zuständig, in der anarchokommunistische und syndikalistische Theoretiker*innen mitwirken.

Zwischenzeitlich kontrolliert Machnos Bewegung ein Territorium von der Größe Irlands mit sieben Millionen Menschen. Die mobilen berittenen Aufständischen genossen unter der Landbevölkerung großen Rückhalt. Das bekamen die Gegner Machnos bei ihren Wiedereroberungsversuchen schmerzhaft zu spüren. Als die weißen Truppen des Generals Denikin im Herbst 1919 auf Moskau marschieren, sorgt Machnos Guerilla für die Destabilisierung des Hinterlandes. Aber im Winter 1920, als die Weißen schon auf dem Rückzug sind, dezimiert eine Typhusepidemie die Aufständischen. Sein zweites Bündnis mit den Roten beginnt Ende 1919 und platzt bereits im Januar 1920. Die Bolschewiki erklären Machno und seine Anhänger*innen zu »Banditen«, aber eine Kontrolle über das Gebiet um Gulajpole können sie nicht erlangen. Parteifunktionär*innen, Miliz und Tscheka-Angehörige werden von den Bauern abgeschlachtet, einfache Rotarmisten laufen zu den Aufständischen über.

Beweis für die Machbarkeit des Anarchismus?

Am 2. Oktober 1920 schließt Machno sein drittes und letztes Bündnis mit den Bolschewiki. Die Reste von Denikins weißer Armee retteten sich auf die Halbinsel Krim, von dort aus startet der neuer Befehlshaber Baron Wrangel eine Offensive. An der letzten Schlacht zwischen Roten und Weißen im europäischen Teil Russlands kämpfen Machnos Truppen an der vordersten Front mit. Im November 1920 nehmen sie zusammen mit der Roten Armee die Krim ein. Unmittelbar nach dem Sieg beginnen die Bolschewiki mit der Entwaffnung ihrer ehemaligen Verbündeten, wer Widerstand leistet, wird erschossen.

Machno verliert seine engsten Vertrauten. Mit dem Rest der Aufständischen bricht er aus Gulajpole aus und beginnt seinen letzten Feldzug. Er versucht, sich mit den anderen Bauernaufständischen zu verbinden, stößt bis in die Nähe von Kursk vor, muss dann nach Westen ausweichen und verliert den Kontakt zu seiner Basis. Am 28. August 1921 überqueren die letzten 78 Aufständischen, darunter Machno und seine Ehefrau Galina Kusmenko die rumänische Grenze in der Nähe der Stadt Jampil.

Den Rest seines Lebens verbringt er in bitterer Armut im Exil. Neben der Verfassung seiner Erinnerung nimmt »Batko« (Väterchen), wie ihn seine Anhänger*innen während des Bürgerkrieges nannten, an den anarchistischen Theoriediskussionen teil. Zusammen mit Pjotr Arschinow begründet er die Strömung des sogenannten Plattformismus, die auf eine verbindliche Struktur der revolutionären Organisation setzte. Seine letzte Ruhe findet Machno auf den Friedhof Père Lachaise in Paris.

Bis heute gilt Machno den einen als Beweis für die praktische Machbarkeit des Anarchismus, den anderen dafür, dass Anarchie notwendigerweise in eine Gewaltorgie ausarten muss. Tatsächlich erreichte Machnos Bewegung zum ersten Mal in der Geschichte des Anarchismus Kontrolle über ein größeres Territorium. Zugleich wurde die Bewegung eher durch das persönliche Charisma ihres Anführers als durch Theorien und Programme zusammengehalten. Im Gegensatz zur Spanischen Revolution konnten die Anarchist*innen nicht lange auf bestehende Massenorganisationen zurückgreifen. Von den Bäuer*innen verehrt, schaffte Machno es nie, guten Kontakt zu den Arbeiter*innen in den Städten aufzubauen. Die Stadtbevölkerung sah die Armee Machnos als gefährliche Plünderer an – nicht ohne Grund. Genau wie in Spanien schafften Anarchist*innen zwar den Staat, aber nicht die politische Gewalt ab, was sie nicht daran hinderte, von Herrschaftslosigkeit zu sprechen. Unter den Warlords war Machno ein Anarchist und unter Anarchisten ein Warlord. Diese Ambivalenz seiner Figur wird auch in zukünftigen Debatten bestehen bleiben.

Ewgeniy Kasakow

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven.