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|ak 714 | Alltag |Reihe: Motherhoods

First World Problems

Von Jacinta Nandi

Manche Sachen waren früher wirklich besser, Berlin zum Beispiel. Foto: Renate Hildebrandt/Wikimedia Commons, CC BY 3.0

Ich habe den Begriff »first world problems« nie besonders gemocht, diese sarkastische Ablehnung der Idee, dass es Menschen geben kann, die im Westen leben und Probleme haben. Ist es nicht rassistisch gegenüber jenen Menschen, die in Ländern leben, die nicht zu unserer »perfekten«, »ersten« (eigentlich einzigen »richtigen«) Welt gehören? Nach dem Motto: »Dort« gibt es (ausschließlich) echte Probleme – tatsächliches Elend –, »die drüben« wissen, was echte Probleme bedeuten; bei uns hingegen jammern nur Weicheier-Millennials rum, und die sollen bitte schön dankbar sein, dass sie nicht zu siebt in Müllcontainern wohnen müssen…

Und vor allem: Ist es nicht total klassenfeindlich? So zu tun, als ob jede*r, die*der im Westen lebt, auch in Wohlstand lebt? Es gibt Menschen in unserer »ersten« Welt, die gerade verhungern. Menschen, deren Zähne entzündet sind, deren Wohnungen fristlos gekündigt wurden, deren Chef sadistisch und deren Vermieter ein Schwein ist. Es gibt Menschen im Westen, die von der Polizei gefoltert werden, und dann getötet, es gibt Frauen, die ihre Kinder verlieren, weil sie gesagt haben, der Kindsvater habe sie vergewaltigt, es gibt Menschen mit mentalen Problemen und Angst, es gibt Menschen, die verloren sind.

Ich habe den Begriff nie besonders gemocht, nie wirklich verstanden. Letzten Sommer beobachtete ich, wie die Polizei gerufen wurde, weil ein älterer Mann Medizin in einer Apotheke geklaut hatte – hätte er sich damit trösten sollen, dass deutsche Apotheken immerhin nette Deko-Displays im Schaufenster machen? Sollen die Obdachlosen, die von Passant*innen und Bullen in Tourist*innenvierteln gemobbt werden, sich darüber freuen, dass Vapianos immerhin nicht geschlossen hat? 

Und ja, sogar diese imaginäre, blonde, weiße Frau, die aus der ersten Welt, die, die denkt, dass die S-Bahn besser funktionieren sollte: Sogar bei ihr denke ich, dass es nicht hilfreich ist, ihr zu sagen, dass sie first world problems hat. Denn ich glaube nicht, dass die, die das sagen, wirklich wollen, dass die Probleme in anderen Ländern gelöst werden. Sie wollen nur, dass man schweigt über das, was nicht gut funktioniert.

Aber ich frage mich, ob ich, wenn ich in einer Zeitmaschine zurückkehren könnte, ins Friedrichshain der Nuller-Jahre, ob ich nicht dieser 24-jährigen Mama dort sagen würde, dass sie first world problems hat, oder noch schlimmer, dass sie »auf hohem Niveau« jammert. Denn in den Nuller-Jahren, als ich eine junge Mama in Berlin war, fanden Alleinerziehende noch kleine, bezahlbare Wohnungen im Stadtzentrum. Die Küche und das Wohnzimmer/Mama-Schlafzimmer waren getrennte, separate Zimmer. Kinderzimmer: klein aber fein. Es gab: Wände, Boden, Decke. Damals konnten die Kinder im Kinderzimmer Mittagsschlaf machen, und die Mamas, die von Hartz-IV lebten, plauderten auf dem Sofa, dann machten sie den Abwasch, bevor sie die Kinder weckten. 

In den Nuller-Jahren, als ich eine junge Mama in Berlin war, fanden Alleinerziehende noch kleine, bezahlbare Wohnungen im Stadtzentrum. Ich weiß, dass ich die Wahrheit sage, aber es kommt mir so vor, als ob mir das nicht wirklich passiert ist.

Wovon rede ich? Ich komme mir so vor, als ob ich Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg über Karottentee erzählen würde. Ich weiß, dass ich die Wahrheit sage, aber es kommt mir so vor, als ob mir das nicht wirklich passiert ist. »Damals hatten nur Reiche Handys«, sage ich zu meinem kleinen Sohn. »Aber wie hast du deine Mutter angerufen?«, fragt er. Ich starre ihn an. Wie habe ich meine Mutter angerufen, damals? »Sie war sowieso zuhause«, sage ich. Ich rede von einer anderen Welt.

Und was ist die Welt, in der wir jetzt leben? 

Heutzutage dürfen Alleinerziehende nicht umziehen. Wenn sie umziehen wollen (der wichtigste Grund: weil der Partner gewalttätig ist, aber es gibt andere Gründe, die auch zählen), müssen sie bereit sein, Wohnungen in Marzahn oder Eberswalde zu berücksichtigen, wo sie niemanden kennen. Ärmere Alleinerziehende dürfen gar nicht umziehen. Alleinerziehende, die fast okay verdienen, eigentlich nicht. Gutverdienende Alleinerziehende können kaum umziehen – sie schaffen es gerade noch so und müssen vielleicht nach Spandau. Und reiche Alleinerziehende? Sie zahlen jetzt 1500, 1600, 1800 Euro für minikleine 1,5-Zimmer-Wohnungen, in denen die Küche Teil des Wohnzimmerbereiches ist, und das Kinderzimmer 1,5 Zentimeter größer als ein Schuhschrank. WAS SOLL DAS.

Man gibt Eltern gerne Ratschläge. Man gibt Müttern sehr gerne Ratschläge. Aber am allerliebsten – eigentlich ist es Germanys Top Hobby – gibt man alleinerziehenden Müttern Rat, Ratschläge, die eigentlich Kritik sind, jeder Rat ein Schlag ins Gesicht. Das Kind braucht mehr »Struktur«, sagt man, vage – aber niemand erklärt, was diese Struktur eigentlich bedeutet, es wird nur suggeriert, dass man eigentlich irgendwie alles falsch macht, und dass es eigentlich irgendwie ganz leicht wäre, alles richtig zu machen, wenn man nicht so eine alleinerziehende Schlampe wäre, sondern eine anständige Frau und Mutter.

Jetzt gebe ich, nach Jahren von vagem Rat über Struktur, als alleinerziehende Frau, Rat an Berlin und Deutschland zurück: Es klingt vielleicht verrückt, aber es ist viel, viel leichter, gut zu erziehen, gute Erziehungsentscheidungen zu treffen, und Spaß an Care-Arbeit zu haben, in einer bezahlbaren 2-Zimmer-Wohnung, die in der Nähe deiner Familie und Friends und Community ist. Struktur ist für Kinder so wichtig, der Mittagsschlaf so erholsam und notwendig – deswegen ist eine Wohnung mit separatem Zimmer das Mindeste, was eine Ein-Eltern-Familie benötigt. Struktur ist so wichtig – Infrastruktur ist am wichtigsten.

Eigentlich glaube ich gar nicht, dass es verschiedene Welten gibt. Keine erste – und auf jeden Fall keine dritte Welt. Es gibt nur diese Welt, und eine Arbeiter*innenklasse, und die Klasse, die uns ausbeutet. Es gibt auf dieser Welt Elend und Ungleichheit, Armut und Überforderung, und jetzt noch dazu den neuen Faschismus. Frauen und ihre Kinder brauchen Wohnraum, Familien brauchen Sicherheit. Es muss bezahlbar sein, zu leben. Dass Wohnungen unbezahlbar geworden sind, das ist ein echtes Problem. Wir dürfen uns eine bessere Welt vorstellen.

Jacinta Nandi

ist Autorin und lebt in Berlin, außerhalb des S-Bahn-Rings. Ihr letztes Buch heißt »50 Ways to Leave Your Ehemann« – ein Manifest, das alle Frauen in Deutschland ermutigen soll, ihre faulen Ehemänner zu verlassen (mehr oder weniger).