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|ak 697 | Geschichte

Making of »Clan«-Kriminalisierung

Über die Folgen der systematischen Verfolgung staatenloser Libanes*innen nach 1993

Von Britta Rabe

Die aktuelle rassistische Kriminalisierung mit dem Schlagwort »Clankriminalität« ist keine neue Erfindung. Im Gegenteil: Sie knüpft an Praxen behördlicher Verfolgung, rassistischer Hetze gegen und Kriminalisierung von sogenannten staatenlosen Libanes*innen in den 1990er Jahren an. Damals wurden mit dem Vorwurf, sie seien »kriminelle Großfamilien«, ganze Familienzusammenhänge eines massenhaf­ten »Sozialbetrugs« bezichtigt und alle Hebel in Bewegung ge­setzt, um sie abzuschieben.

Mit Ausbruch des Bürgerkrieges im Libanon im Jahr 1975 waren unzählige Menschen nach Europa geflohen und hatten sich auch in Deutschland niedergelassen, vor allem in Berlin, Essen und Bre­men. Die rassistische Hetze zu Beginn der 1990er Jahre mündete in Pogromen wie in Rostock-Lichtenhagen und am 28. Juni 1993 zudem in der als »Asylkompromiss« bezeichneten faktischen Ab­schaffung des Rechts auf Asyl.

Seit 1996 hatte die Bundesregierung versucht, ein Rücknahme­abkommen mit dem Libanon zu schließen.  Dies scheiterte daran, dass die libanesische Re­gierung die Aufnahme vom Nachweis der libanesischen Staatsbür­gerschaft abhängig machte. Ein Großteil der Menschen, die die deutschen Behörden loszuwerden versuchten, war allerdings staa­tenlos. Ihre Papiere wurden von den deutschen Behörden, anders als in anderen europäischen Ländern, nicht anerkannt. Eine politische Entscheidung mit weitreichenden Folgen. Die Bemühungen um Abschiebung blieben auch erfolglos, als 1999 der damalige Außenminister Joschka Fischer (Grüne) dafür eigens Beirut besuchte. Die Bundesregierung gab die Verhandlungen vorerst auf.

Fortan suchten Innenministerium und Auslän­derbehörden nach anderen Lösungen und wurden bald fündig: Die Menschen sollten in die Türkei abgeschoben wer­den. Die Behör­den versuchten, Tausenden Geflüchteten nachzuweisen, dass sie türkische Staatsbürger*innen seien. Dazu wurden die »türki­schen Wurzeln« vieler staatenloser Libanes*innen in den Fokus genommen; eine beispiellose Hetzkampagne begann.

Nach der Einreise in Deutschland hatten viele der vor dem Bürgerkriegs Ge­flüchteten angegeben, staatenlose Kurd*innen aus dem Libanon zu sein. Familienangehörige der Großelterngeneration wa­ren in den 1920ern aus der Türkei dorthin geflohen. In einigen Fäl­len hatten Personen daher zunächst mit einem türkischen Pass Asyl in Deutschland beantragt.

Ein Bleiberecht aus humanitären Gründen war diesen Gedulde­ten Anfang der 1990er Jahre nur deshalb gewährt worden, weil auf­grund fehlender Identitätsnachweise eine Abschiebung in den Liba­non unmöglich war. Im Libanon hatten sie unter ihrem arabischen Namen gelebt und nicht unter dem zuvor in der Türkei staatlich verordneten türkischen Familiennamen. Die Lage änderte sich für die Familien mit Duldungsstatus, als die deutschen Behörden begannen, Auszüge aus türkischen Personenstandsregis­tern mit türkischen Familiennamen vorzulegen, um Abschiebungen zu ermöglichen. Der Ermittlungseifer der deutschen Behörden gipfelte in Stammbaumfor­schung und Herkunftsermittlung mittels DNA-Abgleich sowie dem Aufbau spezieller Ermittlungsgruppen, teilweise mitfinanziert von Sozialbehörden.

Ermittlungsnetzwerke gegen »organisierten Asylbetrug«

Diese rassistische Mobilmachung nahm in Bremen ihren Anfang. Dort wurde im Sommer 1998 die Sonderer­mittlungsgruppe »EG19« bei dem damaligen Innensenator Bernt Schulte (CDU) angesiedelt: Fünf Beamt*innen von Ausländer­behörde und Polizei ermittelten zunächst gegen eine konkrete »Großfamilie« und betrieben mit dem Sozialamt über viele Mo­nate Familienforschung.

Mitverantwortlich für diese Ermittlungsgruppe »Libanesen« war der Rechnungshof, der der Bremer Ausländerbehörde eine »unzureichende Durchsetzung der Ausreiseverpflichtung von rechtskräftig abgelehnten Asylbewerbern« bescheinigt hatte. Eine Refinanzierung der Ermittlungsgruppe zwischen Sozial- und Innen­behörde wurde vereinbart. Die Bedingung war, dass entsprechend viele Personen abgeschoben werden müssten, um den Sozialhilfe­topf zu entlasten. Im Februar 2000 verkündete der Bremer Innensenator Schulte einen »sensationellen Erfolg«. Nach langen Ermittlungen habe man einen »großangelegten Asylbetrug« aufgedeckt: 531 staaten­lose libanesische Bürgerkriegsflüchtlinge seien in Wahrheit türki­scher Herkunft. Es folgte der Vorwurf von »organisiertem Sozialhilfebetrug« in Milliardenhöhe, das Narrativ der »kriminellen Großfamilien« und »Clans« entstand. Eine »zügige Abschiebung« in die Türkei sei nun die Konsequenz.

Die Bremer Polizei schikanierte die betroffenen Fa­milien mit Hausdurchsuchungen, bei denen sie die Haushalte nach vermeintlichen Beweisen für eine unterstellte türkische Abstam­mung durchkämmten: Betroffene berichteten, Polizist*innen hätten frühmorgens eine Wohnung gestürmt, die Kinder aus dem Schlaf gerissen, Hochzeitsvideos und Schmuck konfisziert, eine Speichelentnahme bei der Mutter durchgeführt und die Eltern zur erkennungsdienstlichen Behandlung auf ein Polizeirevier mitgenommen.

Eine ähnliche Verfolgungspraxis lässt sich in Niedersachsen fest­stellen: Im dortigen Northeim war seit April 2000 die gemeinsame Ermittlungsgruppe »Libanon« mit Beamt*innen aus Polizei und der Arbeitsgruppe »Ausländerwesen« der Kreisverwaltung tätig. Die Ermittlungsgruppe wer­tete Akten der Ausländerbehörden aus dem gesamten Bundesgebiet aus, darunter Straf- und Sozialhilfeakten, das Auslän­derzentralregister und Personenstandsregister aus der Türkei.

Bei Hausdurchsuchungen in Northeim und Einbeck wurden Te­lefonnummern, Fotos, Videos, Schmuck und geringe Mengen Bargeld mitgenommen. Nach Beweisen für eine türkische Identität wurde sogar in gebrauchten Windeln gesucht. Viele Betroffene berichteten über die entwürdigende Vorgehensweise der Behörden.

Viele Betroffene berichteten über die entwürdigende Vorgehensweise der Behörden.

Im niedersächsischen Landkreis Harburg ermittelte die Auslän­derbehörde seit Mai 2000 in enger Zusammenarbeit mit den türki­schen Konsulaten und Interpol wegen angeblichem Sozialbetrug. 111 Menschen wurden bis 2005 abgeschoben; für weitere 45 Perso­nen waren Abschiebungen geplant. In Folge der Ermittlungen von Ausländerbehörde und Polizei wurden allein im Landkreis Northeim 27 Strafverfahren wegen Sozialhilfebetrugs eingeleitet und den Betroffenen Ausreiseaufforderungen ange­droht. Die Mär vom »Sozialhilfebetrug« und »Asylmissbrauch« machte im Oktober 2000 in ganz Niedersachsen die Runde. Über hundert Staaten­lose aus dem Libanon erhielten fortan nur Gutscheine statt Bargeld, Familien wurden überwacht, Kindern notwendige medizinische Leistungen gestrichen.

Gleichlautend tönte es aus Essen. Der damalige Rechts- und Ordnungsdezernent Ludger Hinsen (CDU) sprach im Mai 2000 von einem »Betrug ungeahnten Ausmaßes«. Aufgrund von Straf­anzeigen des Ausländeramtes hatte die Essener Polizei im März 2000 Speichelproben zur DNA-Analyse von Kurd*innen aus dem Libanon genommen, mit denen eine türkische Staatsangehörigkeit nachgewiesen werden sollte. Im Juni 2002 präsentierte Wendel Lorenz, Leiter der Essener Ausländerbehörde, der Öffentlichkeit dann rund 100 Ver­fügungen und 25 Abschiebungen.

Das »Herkunfts-Gen«

DNA-Tests wurden seit den 1990er Jahren zunehmend bei der Auf­klärung von Straftaten genutzt. In Asylverfahren zum Nachzug von Familienmitgliedern dienten sie zur Überprüfung der Angaben von Betroffenen über Verwandtschaftsverhältnisse. In diesem Zusam­menhang fantasierten die Behörden das »Herkunfts-Gen« herbei und nahmen massenhaft Speichelproben. Fachleute kritisierten be­reits damals, dass sich mit DNA-Tests keine Staatsangehörigkeiten nachweisen lassen und schon gar nicht, wo die jeweils Verdächtig­ten tatsächlich gelebt hatten. Das Gen-ethische Netzwerk wies außerdem auf die beunruhigende historische Kontinuität dieser An­nahmen hin: Rückschlüsse auf die individuelle Abstammung seien sehr eng mit Vorstellungen von genetischen Unterschieden zwi­schen Bevölkerungsgruppen verbunden, Aussagen über die indivi­duelle Herkunft anhand von genetischem Material hingen eng mit Vorstellungen von »Rasse« und biologischer Diversität zusammen. Wenige Monate später folgte Berlin dem Beispiel von Nieder­sachsen und Essen: Im November 2000 wurde dort die Gemeinsa­me Ermittlungsgruppe Identität (GE Ident) aus Polizei und Auslän­derbehörde installiert. Sie sollte »besonders gefährliche Straftäter« neben der strikten Strafverfolgung gezielt »aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zuführen«. Unter dem Titel »Körting will kriminel­le Familien-Clans abschieben« berichtete die Berliner Morgenpost 2003 über die Verfolgung ganzer Familien durch das Landeskrimi­nalamt als Teil der GE Ident, die Staatsanwaltschaft hatte gegen 33 Personen 78 Ermittlungsverfahren eröffnet. Die Vorwürfe lauteten auf Falschbeurkundung, Urkundenfälschung, Betrug und Verstoß gegen das Ausländergesetz. Die Grünen regten darüber hinaus an, die Familien wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung straf­rechtlich zu verfolgen.

Aufgrund der »geringen Rückführungszahlen« und »nicht mehr erzielbarer Effi­zienzgewinne« wurde die GE Ident 2008 aufgelöst. Zu wenige Be­schuldigungen waren juristisch belastbar und führten zu den beabsichtigten Abschiebungen. Dessen ungeachtet fordert der Neuköllner Stadtrat und CDU-Vorsitzende Falko Liecke in seinem »Neuköllner Clankon­zept« bis heute die Wiedereinrichtung der GE Ident.

Kriminalisierung ohne Ende

Eine Recherche im Jahr 2001 hatte bereits bestätigt, dass die Betrugsvorwürfe mehrerer Kommunen nicht haltbar waren: Heinrich Freckmann, Anwalt einiger der Beschuldigten, und Jürgen Kalmbach, Leiter der Hildesheimer Ausländerbehörde, waren im März 2001 nach Beirut, Mardin und Ankara gereist. Ziel war, vor Ort herauszufinden, wie die Unterlagen, die die Identität der be­troffenen Geflüchteten in Deutschland bestätigen sollten, aus dem Libanon und der Türkei beschafft worden waren und wie diese zu bewerten seien. Für eine mög­lichst umfassende Akzeptanz der Untersuchungsergebnisse reisten Anwalt und Vertreter der Ausländerbehörde zu­sammen. Beide konnten bestätigen, dass die Großelterngeneration der von Kriminalisierung betroffenen und von Abschiebungen be­drohten Menschen nach der Flucht aus der Türkei im Libanon als geduldete Ausländer*innen kaum Chancen auf einen Identitäts­nachweis oder die Registrierung von Geburten, Sterbefällen u.ä. ge­habt hatten. In der Türkei wiederum gelangten Personendaten oft ohne Zutun und ohne Kenntnis der Betroffenen in Personenstandsregis­tern und wichen teils von den tatsächlichen Gegebenhei­ten ab. Freckmann und Kalmbach konnten zeigen, dass das libanesische Register über Geburten, Ehen und Sterbefälle für die 1960er und 1970er Jahre für einen Herkunftsbeweis ebenso wenig belastbar ist wie das Personenstandsregister in den relevanten Orten der Türkei. Zu einem Ende der Kriminalisierung führte dies allerdings nicht.

Im Gegenteil: 2003 berichtete der FOCUS, 80 Städte hätten sich »gegen die Clans zusammengeschlos­sen«. Der Ermittlungseifer der Schreibtischtäter*innen war gren­zenlos: Ob anonyme Hinweise rachsüchtiger Bekannter oder Genanaly­sen von mutmaßlichen Geschwisterkindern, ob die Auswertung beschlagnahmter Fotoalben oder Interpol-Recherchen in vermuteten Heimatorten – die ethnokulturellen Fährtensucher*innen zogen alle Register und beantragten nicht selten richterliche Beschlüsse für Razzien und Beschlagnahme-Aktio­nen: Verstoß gegen das Ausländergesetz, Urkundenfälschung und Betrug waren die üblicherweise vorgeworfenen Straftatbestände. Überall in Deutschland arbeiteten Beamt*innen emsig an der Ver­folgung ganzer Familien.

Diese Methode hält sich bis heute: Im Jahre 2010 wurde in Bremen eine polizeiliche »Informationssammelstelle ethnische Clans« eingerichtet. Auch die Forderung nach der Wiedereinrichtung der Berliner GE Ident im Zusammenhang mit der Beschwörung eines Kampfes gegen »Clans« deutet darauf hin, dass politische Schlüsselfiguren eine explizite Kontinuität befördern.

Kämpfe ums Bleiberecht

Die rassistische Hetze der Behörden erhielt vielerorts starken Gegenwind: Betroffene schlossen sich zusammen; die bundesweit ausgetragenen Bleiberechtskämpfe mit solidarischer Unterstützung von antirassistischen Initiativen und Organisationen und engagierten Anwält*innen sowie die mediale Skandalisierung der rassistischen Praxis endeten für viele Personen mit dem Bleibe­recht. Die breite Solidarität half zudem unzähligen Betroffenen in ihrer allgegenwärtigen Angst und Unsicherheit.

Trotz etlicher Erfolge wurde das Leben vieler sogenannter staa­tenloser Libanes*innen nachhaltig zerstört, indem sie selbst oder Familienmitglieder aus Deutschland abgeschoben wurden. Andere erlebten über viele Jahre existenzielle Angst, Unsicherheit und Stig­matisierung. So verbrachte etwa Gazale Salame nach ihrer Abschiebung aus Hildesheim im Jahr 2005 acht Jahre unter schlechtesten Bedingun­gen in der Türkei, einem Land, das sie nicht kannte und dessen Sprache sie nicht sprach. Ihre Rückkehr nach Deutschland im Jahr 2013 war nur einem jahrelangen, unermüdlichen Kampf zu verdan­ken, den ihre Familie in Deutschland und viele Unterstützer*innen ausgefochten hatten. Die beschriebene gnadenlose Verfolgung staatenloser Libane­s*innen per Aufenthaltsrecht nach 1993 ist nicht Geschichte, son­dern hält bis heute an: Aktuell kämpft etwa die Krankenpflegerin Farah Hareb – seit 36 Jahren in Deutschland – gegen ihre Abschie­bung in die Türkei.

Britta Rabe

ist seit vielen Jahren in antirassistischen Initiativen aktiv – lokal bis transnational. Seit 2018 arbeitet sie als politische Referentin für Grenzen/Migration und Knast/Politiken des Strafens beim Grundrechtekomitee in Köln. Daneben ist sie in ihrer Freizeit u.a. beim »Watch the Med – Alarmphone« aktiv.

»Generalverdacht –
Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird«

Das Buch unternimmt erstmals eine kritische Bestandsaufnahme der Clan-Debatte aus kriminologischer, rechtswissenschaftlicher, soziologischer und feministischer Perspektive und erscheint am 16. Oktober 2023. Dieser Artikel ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch.