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|ak 657 | Alltag |Kolumne: Torten & Tabletten

Kunst und Kontext

Von Frédéric Valin

Stefan ist ein begnadeter Zeichner. Das weiß er inzwischen auch. Er ist stolz auf die Bilder, meist Selbstporträts, obwohl das auf den ersten Blick nicht ohne weiteres ersichtlich ist: Stefan malt sich selbst gerne als Alice im Wunderland, als Heidi, als Rotkäppchen oder als Dornröschen.

Seine Bilder sind von eigentümlicher Kraft, und das ist auch anderen nicht verborgen geblieben. Auch außerhalb der Einrichtung hat sich herumgesprochen, dass hier ein Mann von großem Talent wohnt. Es haben sich schon diverse Künstler*innen darum bemüht, mit ihm Ausstellungen zu organisieren, er ist Mitglied in einem kleinen Kunstverein. Er selbst überblickt das nicht, ihn interessiert nur das Malen. Für Renommee und Ruhm hat er keinen Sinn.

Es ist durchaus so, dass sich jene Künstler*innen, die sich um Stefan bemühen, mit ihm schmücken wollen. Unter den eher kunstfernen Kolleg*innen ruft das regelmäßig Ressentiments hervor: Die nutzen den armen Mann aus. Denen geht es doch nur um sich. Das ist natürlich eine zutiefst patriarchale Haltung, einerseits, weil es Stefans Kunst nicht ernst nimmt, andererseits, weil es verschleiert, dass dieses Interesse von außen für Betreuende immer auch ein Kontrollverlust ist. Und das hat man – Inklusion hin oder her – einfach nicht gern.

Das letzte halbe Jahr hatte Stefan mit einem Künstler zu tun, der mit ihm eine Ausstellung organisieren wollte. Es war ein Fotoshooting geplant, um Porträts für den Katalog anzufertigen. Stefan mochte den Typen, und er genoss die Aufmerksamkeit. Die Session fand auf der Gruppe statt. Der Künstler, nennen wir ihn Albert, brachte unabgesprochen noch eine Visagistin und eine Fotografin mit.

Einen Monat später rief ganz aufgeregt Stefans Schwester, die auch die gerichtlich bestellte Betreuerin ist, an und untersagte jeden weiteren Kontakt zu dem Mann. Die Bilder seien grotesk, schockierend undsoweiter. Ich bat sie, die Fotos weiterzuleiten. Stefan, geschminkt, lachend; der Typ, auch geschminkt, mit nacktem Oberkörper, Boxhandschuhe an den Händen, eine pinke Perücke auf dem Kopf. Die beiden sind sich körperlich recht nah, möglich, dass Stefan auf Alberts Schoß sitzt, auf dem einen Bild fasst Stefan dem Mann an die Nase. Das macht er, wenn er sich mit jemandem wohl fühlt.

Mein erster Impuls war: Eigentlich ganz geil, diese Queerness passt gut zu Stefan. Aber andererseits gibt es die Begleitumstände. Und die werfen Fragen auf. Erstens hat Albert nicht angekündigt, was er da vorhat, weder uns noch der Schwester. Uns gegenüber hat er zudem behauptet, es sei alles mit der Schwester abgesprochen. Er hat der Schwester auch nach Aufforderung nur zwei der gemachten Fotos gesendet. Was auf den anderen zu sehen ist, weiß also niemand. Und als ihm die Schwester ihre Irritation mitteilte, fing er an, über die Einrichtung herzuziehen.

Also ja, da sind einige Fragen offen, insbesondere, weil Stefan über die Treffen nicht spricht. Das ist sein Geheimnis, sagt er. Am Ende waren sich fast alle im Team einig, dass sie den Entschluss der Schwester, den Kontakt zu unterbinden, unterstützen.

Das hatte drei maßgebliche Gründe. Eine tatsächliche Sorge um Stefan ist allen gemein, keine*r will ihm was Schlechtes. Und overprotecten kommt vielen sicherer vor als der Kontrollverlust einer Selbstverwirklichung im Strudel widerstreitender Impulse. Dann kommt, zweitens, der schlechte Leumund Alberts, teils selbstverschuldet (beschissene Kommunikation), teils aber auch durch die Vorurteile im Team. Er, der Maler, der Frauensachen trägt! Was will der überhaupt mit einem Menschen mit Behinderung! Und folgendes spielte auch eine Rolle: die Angst vor der Öffentlichkeit. Die berechtigte Angst vor der Öffentlichkeit. Von Heimen, von solchen Wohneinrichtungen will ja kaum jemand was wissen, außer es kommt tatsächlich zum Missbrauch. Dann wird flächendeckend berichtet.

Es ist möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich, dass dieser Albert missbräuchliche Absichten hat. Sobald eine Möglichkeit des Missbrauchs besteht, ist es natürlich unser erstes Anliegen, Stefan zu beschützen. Sobald der Verdacht besteht, müssen wir eingreifen, gerade dann, wenn uns die Situation unübersichtlich erscheint. Hätte es auch andere Möglichkeiten gegeben, Missbrauch vorzubeugen? Klärende Gespräche mit dem Künstler, ihm klarmachen, was von ihm erwartet wird? Eine engmaschigere Begleitung? Ich war mir sicher, dass ja. Dann habe ich mit Missbrauchsüberlebenden über die Situation gesprochen, die haben mir recht deutlich gesagt, dass ich mich überschätze, wenn ich glaubte, Missbrauch sehen zu können. Dass es sehr schwer sei, das zu sehen, insbesondere wenn jemand – wie Stefan – überhaupt nicht spricht. Und jetzt weiß ich es nicht mehr.

Was ich weiß: Stefan sitzt jetzt allein auf seinem Zimmer und malt. Hin und wieder fragt er, ob Albert noch einmal kommt. Vor zwei Wochen hat er zum ersten Mal einen Totenkopf gezeichnet. Ich hoffe, es war kein Selbstporträt.

Frédéric Valin

ist Autor. In ak schrieb er die Kolumne »Torten & Tabletten«. Zuletzt erschien sein autobiografischer Roman »Ein Haus voller Wände« (Verbrecher-Verlag 2022) über seine Arbeit als Pfleger.